Das Land zwischen den Meeren
Damit du wieder etwas Fleisch auf die Rippen bekommst.«
Katharina machte sich abermals am Herd zu schaffen und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Dorothea Hut und Mantel ablegte und sich kraftlos Gesicht und Hände in der Waschschüssel auf der Kommode wusch. Knapp achtzehn Jahre alt war die Patentochter gewesen, als sie das letzte Mal bei ihr gewesen war. Danach hatten sie sich nur noch Briefe geschrieben, in denen Dorothea berichtete, die Eltern hätten ihr weitere Besuche untersagt, ohne allerdings einen Grund für ihr Verbot zu nennen.
Doch in die Wiedersehensfreude mischte sich Besorgnis. Dorothea wirkte seltsam geistesabwesend. Irgendetwas musste vorgefallen sein, etwas von einiger Tragweite, das hatte sie sofort gespürt. Aber sie wollte Dorothea nicht mit Fragen bedrängen, sondern ihr Zeit lassen, sich wieder zu fassen. Katharina stellte die Teller mit der dampfenden Suppe auf den Tisch, legte zwei Blechlöffel dazu und sprach ein kurzes, tonloses Gebet.
Schweigend aß sie und sah voller Freude, dass die Patentochter die Suppe mit offensichtlichem Appetit verspeiste. Als sie die Teller geleert hatten, wagte Katharina vorsichtig eine Frage, die ihr auf der Seele lag. »Sag mir, wissen deine Eltern, dass du hier bist?«
Und dann brach es aus Dorothea heraus. Sie redete sich alles von der Seele, was sich in ihr angesammelt und was sie bis zu diesem Augenblick zurückgedrängt hatte. Erzählte von den Geschehnissen der letzten Monate, von Alexander, ihrer gegenseitigen Liebe, ihren Heirats- und Reiseplänen, von dem Kind, das sie erwartete, und Alexanders sinnlosem Tod, von der unbeugsamen Haltung der Eltern, die ihr keine andere Wahl ließen, als ihr Zuhause zu verlassen. Mehrmals musste sie sich unterbrechen und die Tränen trocknen. Sie schluckte schwer. »Wenn ich nur wüsste, wovon ich leben soll und wie ich mein Kind großziehen kann.«
Mit unbewegter Miene saß Katharina auf ihrem Stuhl und hörte zu, während ihr Inneres nicht weniger aufgewühlt war als das der Patentochter. Am liebsten hätte sie mitgeweint, nein, viel lieber noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen und Hermann und Sibylla Fassbender der Heuchelei und der Unbarmherzigkeit gegen ihre Tochter angeklagt. Doch sie durfte sich nichts anmerken lassen, wollte Dorothea keinesfalls verunsichern. Denn sie hatte den Eltern hoch und heilig versprochen, ihr Leben lang zu schweigen. Damals, als Hermann, ihr Cousin zweiten Grades, ihr die Patenschaft angetragen hatte. Weil alles in der Familie bleiben und Dorothea nie die Wahrheit erfahren sollte. Die schmerzliche Wahrheit.
Bitterkeit stieg in ihr auf, Trauer und Wut. Doch nun musste sie die Gedanken an die Vergangenheit verscheuchen. Sie rückte mit dem Stuhl neben Dorothea und nahm die Patentochter in die Arme. »Mein armes Kind, was hast du durchgemacht! Es war richtig, dass du gekommen bist.« Sie streichelte Dorothea über das Haar. »Schon zehn Uhr … Lass uns schlafen gehen. Morgen reden wir weiter. Wir werden eine Lösung finden, für dich und dein Kind. Das verspreche ich dir.«
Sie richtete Dorothea auf dem Sofa ein Nachtlager mit frischen Laken und zwei wollenen Decken. Aufgewühlt zog sie sich nach nebenan in ihre kalte Schlafkammer zurück, wo sie erst nach langem Wachsein in einen bleiernen Schlaf fiel.
Sie wand sich durch ein Dickicht aus bizarr geformten Bäumen, Sträuchern und Schlingpflanzen. Der Saum des langen weißen Nachthemdes umspielte ihre Knöchel, sie spürte weiches Moos unter den bloßen Füßen. Dann erreichte sie eine Lichtung, die von sich wiegenden Blumen gesäumt war. Beim Näherkommen beobachtete sie, dass die Blumen wuchsen, bis sie mannshoch waren. Der Reihe nach öffneten sich die Knospen, entfalteten sich zu schmetterlingsähnlichen roten Blüten. Sie starrte zu ihnen hinauf, und plötzlich wurden die Blütenköpfe zu Frauengesichtern, die zu weinen begannen. Tränen tropften auf sie herab, fielen auf das weiße Gewand, das sich mit roten Flecken färbte.
Ein ziehender Schmerz durchfuhr ihren Leib. Sie wollte sich umwenden und davonlaufen, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Immer mehr Tränen fielen auf das weiße Gewand. Haltet ein!, wollte sie den Blumen zurufen, doch sie brachte keine Silbe heraus.
Eine kühle Hand legte sich auf ihre schweißnasse Stirn. »Dorothea, was ist mir dir? Hast du nach mir gerufen?«
Wie aus der Ferne vernahm sie die Stimme der Patentante. »Ich … ich habe schlecht geträumt. Wo bin ich?« Sie richtete
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