Das Land zwischen den Meeren
kannst du dir ein so großes Gefühl in deinem prekären Zustand überhaupt nicht erlauben.«
Auf einmal fühlte Dorothea sich mutiger, freier und wagte einen Vorstoß. »Dabei nahm ich immer an, gegenseitige Liebe und Achtung seien die Grundlagen einer glücklichen Ehe. So wie Eltern es ihren Kindern vorleben. Soll ich etwa nicht eurem leuchtenden Beispiel folgen?« Dorothea war es tatsächlich gelungen, Aufrichtigkeit in ihre Worte zu legen, an die sie selbst nicht glaubte. Denn das Zusammenleben ihrer Eltern hatte sie stets als kühl, aber nie als harmonisch empfunden.
Sibylla Fassbender wurde bleich. Ihre Unterlippe zitterte. Hermann Fassbender stand der Mund offen. Er wollte etwas sagen, doch stattdessen richtete er den Blick angestrengt auf die Pendeluhr an der gegenüberliegenden Wand. Nur langsam fand er seine Fassung wieder.
»Nun gut … wir können dich nicht zwingen, diesen Ehrenmann zu heiraten. Aber dann muss dieses Kind der Schande so schnell wie möglich weg. Bevor jemand Verdacht schöpft. Ich suche eine Adresse heraus, irgendwo in einer Stadt, wo dich niemand kennt. Alles wird ganz diskret ablaufen, und es wird nicht der geringste Schatten auf die Ehre unserer Familie fallen.«
Nunmehr war es Dorothea, die in den Sessel zurücksank. Die Wunde in ihrem Innern riss wieder auf und schmerzte unerträglich. Wie konnte ihr Vater, ein Arzt, der einen Eid ge schworen hatte, Leben zu erhalten … wie konnte ausgerechnet er einen derart verwerflichen Vorschlag machen? In ihren Ohren erhob sich ein Rauschen, durch das sie fern und fremd die eigene Stimme vernahm. »Nein! Ich werde dieses Kind behalten.«
Der Vater schlug mit solcher Heftigkeit auf das Beistelltischchen, dass eine Blumenvase herunterfiel und zerbarst. »Ich lasse mir von einem Flittchen, das sich dem erstbesten Kerl an den Hals wirft, meine Existenz nicht vernichten. Du hast die Wahl, Dorothea. Entweder du heiratest den Apotheker und gibst diesen Bastard als euer gemeinsames Kind aus, oder du lässt es entfernen. Andernfalls bist du nicht mehr unsere Tochter. Dann kannst du gehen, wohin du willst, und brauchst nie mehr zurückzukommen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt!« Wutschnaubend rannte Hermann Fassbender aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Eine eiserne Faust umklammerte Dorotheas Herz. Die Worte des Vaters drangen wie Messerstiche auf sie ein. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, sie zitterte am ganzen Körper. »Hast du jemals daran gedacht, dein ungeborenes Kind umzubringen?«, rief sie ihrer Mutter tränenblind und voller Verzweiflung zu.
Sibylla zuckte zusammen, als wäre sie von einem Insekt gestochen worden. Mühsam suchte sie nach Worten. »Du musst Vater verstehen … Es geht um seinen Ruf. Um alles, was er sich über Jahre aufgebaut hat. Heirate diesen Mann, Dorothea! Ihr werdet weitere Kinder bekommen. Und vielleicht stellt sich später noch so etwas wie … wie Liebe ein.«
Beim Läuten der Türklingel hielt Sibylla erschrocken inne. »Oh, das habe ich ganz vergessen! Die Schriftführerin unseres Wohltätigkeitsvereins holt mich zur Jahresversammlung ab.« Sie zückte ihr Taschentuch, tupfte sich hektisch über Wangen und Augen. »Niemand darf mir etwas anmerken … Wo ist mein Hut? Ich muss mich beeilen.«
Sie war bereits in der Tür, als sie sich noch einmal umwandte. »Überleg dir gut, was du tust, Dorothea. Und ob du dein Elternhaus aufs Spiel setzen willst.«
Mit jeder Faser ihres Körpers verspürte Dorothea tiefste Verzweiflung. Dann wieder fühlte sie sich wie betäubt. Als hätte ihr jemand jegliches Empfinden geraubt. Ein unwirklicher Zustand, in dem sie sich befand. Als wäre sie gar nicht in ihrem Körper, sondern würde sich von außen betrachten. Nie hätte Dorothea es für möglich gehalten, dass ihre Eltern zu einer derartigen Härte fähig wären. Der eigenen Tochter gegenüber. Die sie geboren und großgezogen hatten. Und die sie nunmehr vor die Wahl stellten, ihr Leben an der Seite eines ungeliebten Mannes zu verbringen oder den Tod ihres ungeborenen Kindes verantworten zu müssen. Was ihrem eigenen Tod gleichgekommen wäre. Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken um dieselben Fragen, auf die sie keine Antwort fand. Apathisch lag sie auf dem Bett, vermied es, den Eltern zu begegnen, und stand nur zum Essen und Trinken auf, wenn sie wusste, dass keiner der beiden zu Hause war.
Am dritten Tag schien eine kräftige Mittagssonne in ihr Zimmer, tauchte die
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