Das Land zwischen den Meeren
Kindereien wollen wir nun ganz schnell wieder vergessen.«
Unvermittelt ließ Dorothea Peter Lommertzheim stehen und wandte sich zum Treppenhaus um. »Der Herr Apotheker findet mich im oberen Stockwerk bei dem Dürerbild. Ich muss unbedingt nachprüfen, welcher der beiden Männer im Profil dargestellt ist. Der Trommler oder der Pfeifer.«
»Wie ich es versprochen habe, gnädige Frau. Sie erhalten Ihre Tochter pünktlich zurück.«
Sibylla Fassbender stand in der Diele und zupfte aufgeregt an ihrer Perlenkette. »Möchten Sie nicht zum Tee bleiben, Herr Lommertzheim? Mein Mann hat gerade seinen letzten Patienten für heute nach Hause geschickt. Es wäre uns eine große Freude.«
»Sehr gern. Dann können wir noch einmal den Höhepunkten unserer kleinen Exkursion nachgehen, nicht wahr, Fräulein Dorothea?« Peter Lommertzheim strich sich über den Bart und lächelte siegesgewiss.
Dorothea hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein, und bemühte sich um eine diplomatisch formulierte Absage. »Ich bedanke mich für den lehrreichen Ausflug, Herr Lommertzheim. Allerdings zöge ich mich gern zurück, um meine Eindrücke schriftlich niederzulegen und sie später zum Unterrichtsstoff für meine Schützlinge auszuarbeiten.«
»Wie bedauerlich, nicht einer dieser Schützlinge zu sein!« Peter Lommertzheim ergriff Dorotheas Hand und drückte sie kräftig. »Auch ich habe heute einiges gelernt.«
Sibylla Fassbender hatte Mühe, ihre Neugierde zu verbergen. Sie schien sogar erleichtert, die Teerunde ohne die Tochter beginnen zu können. »Wenn Sie mir in den Wintergarten folgen wollen, mein lieber Herr Lommertzheim.«
Dorothea schloss die Zimmertür hinter sich und war froh, die unangenehme Prozedur überstanden zu haben. Immerhin glaubte sie, dem Apotheker klargemacht zu haben, dass sie keinesfalls die passende Frau für ihn war. Er würde also mit ihren Eltern eine kurze, unverbindliche Konversation betreiben, sich höflich verabschieden und wieder seinen Geschäften zuwenden. Aber – was sollte aus ihr werden?
Rodenkirchens würden zweifellos die Kündigung aussprechen, sobald sie von ihrer Schwangerschaft erführen. Ihre Eltern würden sie nur so lange im Haus behalten, wie ihr Zustand zu verbergen war. Ob sie sich in ein Kloster zurückziehen sollte, weit weg von Köln? Doch würde man eine unverheiratete Schwangere dort überhaupt aufnehmen? Und was wäre nach der Geburt des Kindes? Wie und wo würde es aufwachsen? Heftige Übelkeit stieg in ihr auf. Sie griff nach der Waschschüssel und übergab sich, hoffte nur, dieses Missempfinden ginge möglichst schnell vorüber. Kraftlos sank sie vor ihrem Bett auf die Knie und betete zur Gottesmutter Maria. Flehte sie um Beistand an. Bat um Errettung aus ihrer ausweglosen Situation, auf welche Weise auch immer. Dann legte sie sich aufs Bett, strich sich vorsichtig über den Leib und versuchte sich vorzustellen, wie in ihr, noch winzig klein, neues Leben wuchs.
Ein Pochen an der Tür, begleitet von Gretas Stimme, riss sie aus ihren Gedanken. »Fräulein Dorothea, Sie möchten zu Ihren Eltern in den Wintergarten kommen.«
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ihren Eltern gegenübersaß. Beide waren von einer Einmütigkeit und heiteren Gelassenheit, wie Dorothea sie nie an ihnen erlebt hatte.
»Setz dich, Dorothea! Wir müssen etwas mit dir besprechen.« Sibylla Fassbender rutschte bis zur Vorderkante des Sofas, und plötzlich sprudelte es aus ihr hervor. »Heute ist für uns alle ein Glückstag. Herr Lommertzheim hat um deine Hand angehalten.« Sie zog ein besticktes Taschentuch aus dem Ärmel ihres roten Taftkleides und tupfte sich Freudentränen aus den Augenwinkeln.
Nachdem sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte, saß Dorothea ganz besonnen und aufrecht da. Ein unerklärliches Gefühl von Ruhe und Sicherheit durchflutete sie. »Ich werde diesen Mann nicht heiraten.«
»Du wirst was ? Ich habe mich wohl verhört.« Hermann Fassbender war aus seinem Sessel aufgesprungen und legte eine Hand hinter das Ohr.
»Doch, du hast richtig verstanden, Vater. Ich werde den Apotheker Peter Lommertzheim nicht ehelichen.«
»Aber warum denn nicht? Er ist doch ein wohlsituierter und sympathischer Mann.« Sibylla blickte fragend erst zu Dorothea, dann zu ihrem Mann auf und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Wir passen nicht zusammen. Außerdem liebe ich ihn nicht.«
Ihr Vater machte eine abwertende Handbewegung. »Liebe … was hat denn das mit Ehe zu tun? Außerdem
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