Das Land zwischen den Meeren
einer dringenden Angelegenheit … geschäftlich verhindert. Ich kann mich erst gegen Nachmittag um Ihre Belange kümmern. Und morgen bin ich bei alten Freunden in Altona eingeladen … Tja, kommen Sie am besten übermorgen früh zum Hafen, dann werden Sie erfahren, ob die Passage noch zu buchen war.«
Mai 1848
»Viel Glück, mien Deern!«, hatte die Wirtin gewünscht und Dorothea dabei kräftig und herzlich die Hand gedrückt. »Und vergiss die alte Wilhelmina aus der Hamburger Deichstraße nicht, wenn du am anderen Ende der Welt angekommen bist. Und jetzt geh mal schnell, sonst werde ich noch bannig traurig. Ich hasse Abschiede.«
Wie selbstverständlich war die Wirtin davon ausgegangen, Dorothea habe den letzten noch freien Platz auf dem Schiff bekommen und werde an diesem nieselgrauen Maimorgen in See stechen. Aber was, wenn Jensen keine Passage mehr hatte kaufen können, weil ihm in letzter Minute jemand zuvorgekommen war? Was sollte dann aus ihr werden? Mit einem entschiedenen Kopfschütteln streifte Dorothea die Zweifel von sich ab und machte sich mit festen Schritten zum Hafen auf. Das rhythmische Klacken ihrer Absätze auf dem feuchtgrauen Kopfsteinpflaster drang ihr ans Ohr wie eine Melodie, die sie vorantrieb.
Ein großer Dreimaster lag mitten im Fluss vor Anker. Kaiser Ferdinand stand in goldenen Buchstaben am Bug. Matrosen in weiten blauen Hosen und blauen Kitteln waren damit beschäftigt, Leinen und Segel aufzuklaren. Ruderboote pendelten zwischen dem Steg an Land und dem Segler hin und her, brachten Fracht sowie den Proviant für Mannschaft und Passagiere an Bord. Männer mit zotteligen Bärten und breiten Schultern legten sich mit aller Kraft in die Riemen, Kommandos und Zoten flogen zwischen dem großen Segler und den Booten hin und her, hallten über das sacht plätschernde Wasser. Möwen umkreisten das Schiff, hielten Ausschau nach Beute oder ließen sich nebeneinander auf den Pontons nieder.
Eine Gruppe Reisender stand nachdenklich und still am Anlegesteg. Daneben türmten sich Koffer, Kisten, Kiepen und Stoffbündel. Das mussten die Passagiere sein, die mit der Kaiser Ferdinand nach Costa Rica aufbrechen wollten. Dorothea erkannte das Ehepaar aus dem Überseebureau, das eine Kabine auf dem Oberdeck gebucht hatte. Außerdem warteten dort drei weitere Familien mit insgesamt neun Kindern im Alter von etwa vier bis vierzehn Jahren. Ihre ärmliche Kleidung war vielfach geflickt, aber sauber. Die Kinder trugen viel zu große Mäntel und Schuhe, sie wirkten übernächtigt und verängstigt. Eine der Frauen saß auf einem Koffer und hatte die beiden jüngsten Kinder auf den Schoß genommen.
Dorothea näherte sich der Gruppe und spähte dabei ungeduldig in alle Richtungen, konnte den Kaufmann aber nirgends entdecken. Ein nagelneuer rotbrauner Lederkoffer mit silbernen Beschlägen, fast so hoch wie sie selbst, stach ihr in die Augen. Sie konnte ihn keinem der Wartenden zuordnen – dieser Koffer war zweifellos das Reiseutensil eines Wohlhabenden. Eines Mannes wie Jensen.
Und dann sah sie ihn, wie er über eine der Brücken zum Baumwall herunterkam. In einem eleganten grauen Mantel mit Zylinder, ganz wie ein ehrenwerter Bürger, der wusste, was er seinem Stand schuldig war. Als er Dorothea erblickt hatte, winkte er ihr von Weitem zu. In der Hand hielt er einen Briefumschlag. Dorotheas Herz tat einen Sprung. Er hatte also doch noch eine Passage buchen können! In ihrer Aufregung wäre sie dem Kaufmann am liebsten entgegengelaufen und hätte ihm die Bordkarte aus der Hand gerissen. Doch welchen Eindruck hätte das gemacht? Noch dazu vor den vielen fremden Leuten. Sie zwang sich, ruhig abzuwarten, bis Jensen vor ihr stand. Er zog den Hut, verbeugte sich knapp und reichte ihr den Umschlag.
»Mein Fräulein, es ist alles für Sie geregelt. Einfach war es allerdings nicht. Da war nämlich noch ein Priester, der zu einer Missionsstation an der Grenze zu Nicaragua reisen wollte. Er hatte diese letzte Karte bereits reserviert. Nun, ich musste meine ganze Überzeugungskraft einsetzen, wie Sie sich sicher vorstellen können. Jetzt wird der fromme Mann noch eine Zeit lang zu Hause beten müssen, bis er die heidnischen Seelen der costaricanischen Indios retten kann.«
Nachdem die Schauerleute die Ladung im Innern des Schiffes gegen mögliches Verrutschen fest vertäut hatten und von Bord gegangen waren, wurden die Passagiere und ihr Gepäck zur Kaiser Ferdinand gerudert. Ganz zuletzt ging der Lotse an Bord, der
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