Das Land zwischen den Meeren
Gesichter.
Der Obersteuermann rief die Reisenden, die die teureren Kabinen mit Bullaugen gebucht hatten, zu sich und führte sie aufs Vordeck, wo auch die Mannschaftsquartiere lagen. Es waren drei Personen. Erik Jensen sowie das Ehepaar, das Dorothea beim Kauf seiner Bordkarten beobachtet hatte.
»Alle Passagiere vom Zwischendeck her zu mir!«, rief der Bootsmann, ein schlaksiger langer Kerl mit Hakennase und einem fehlenden Eckzahn. Sofort kam Bewegung in die Menschenansammlung. Alle eilten zu der engen Luke auf dem Achterdeck, drängten sich über steile Niedergänge hinunter in den Bauch des Schiffes. Zwischen dem Oberdeck und den Frachträumen hatte die Reederei ein behelfsmäßiges Quartier mit Schlafkojen eingerichtet. Eine Kammer war für Frauen, die andere für Männer vorgesehen. Auf der Rückfahrt von Mittelamerika nach Europa würde die Einrichtung ohne großen Aufwand wieder entfernt und der Raum für Fracht genutzt werden. Unterhalb des Zwischendecks befanden sich die Laderäume, vollgepackt mit Möbeln, Porzellan, Lampen und Stoffballen, außerdem mit Büchern, Küchenutensilien und Weinflaschen. Waren, die in Costa Rica an zahlungskräftige Kunden verkauft werden sollten.
Der Weg führte an mehreren Verschlägen vorbei durch einen dunklen Gang, der so niedrig war, dass einige der Reisenden den Kopf einziehen mussten. Zwei Talglichter an den Wänden spendeten ein schwaches Licht. Plötzlich redeten alle durcheinander. »Wann gibt es die erste Mahlzeit?«, »Wo bekommen wir frisches Wasser?«, »Wann erreichen wir das offene Meer?«
»Eins nach dem anderen. Jetzt werden erst einmal die Kojen verteilt. Frauen, Mädchen und Kinder unter fünf Jahren nach rechts treten. Männer und Knaben über fünf Jahren nach links«, ertönte das Kommando des Bootsmannes.
»Ich will aber bei Vater bleiben«, maulte ein kleiner Junge, ganz unzweifelhaft ein Bruder des ungeduldigen Sommersprossenmädchens, und sah sich sehnsüchtig um. Die Mutter strich ihm beruhigend über den Kopf. »Es ist doch nur nachts, Richard. Dafür darfst du den ganzen Tag über mit ihm zusammen sein.«
Der Bootsmann nahm eine Liste zur Hand und rief die Namen der Reisenden auf. »Zuerst die Frauen. Also, Else Reimann und ihr Sohn Richard, vier Jahre, haben die Koje unten links. Darüber schläft Frau Helene Kampmann. Anna Meier und ihre Tochter Klara, sieben Jahre, bekommen die Koje unten rechts. Die darüber teilen sich Lotte Kampmann, zwölf Jahre, und Roswitha Reimann, vier Jahre. Und die beiden Kojen in der Mitte sind für die allein reisenden Fräuleins, Elisabeth von Wilbrandt und Dorothea Fassbender, reserviert.«
Zögernd wagten sich die beiden jüngsten Kinder in die Kajüte und blickten sich ängstlich nach allen Seiten um. Erst nachdem die Mutter sie ermuntert hatte, kletterten Richard und Roswitha in ihre Kojen. Dann entbrannte ein Streit, weil Richard viel lieber den Platz unter der Decke gehabt hätte.
»Wie sollen wir’s in diesem stinkenden Loch über so viele Wochen bloß aushalten?«, seufzte Else Reimann, eine zierliche blonde Frau mit einer feinen Narbe auf der Stirn, die Mutter der beiden Streithähne. Dabei sprach sie bewusst leise, damit die Zwillinge ihre sorgenvollen Worte nicht hörten.
Dorothea betrat als Letzte die Kajüte. In der engen Schlafkammer war die Luft noch stickiger als draußen auf dem Gang, es roch nach Schweiß, Urin und verdorbenen Lebensmitteln. In dem trüben Licht erkannte sie in einer Nische drei hölzerne Bettgestelle mit jeweils zwei Etagen. An der Wand gegenüber befanden sich Kleiderhaken und unter der Decke aufgehängt eine Hängematte. Während die Frauen sich miteinander bekannt machten, begutachteten auch die anderen Mädchen ihre Schlafstätten.
»Ich kann da oben nicht schlafen, da gibt es keine Matratzen, nur Strohsäcke. Und ich will mein Bett auch nicht mit einem Kleinkind teilen. Außerdem stinkt es hier wie die Pest. Ich will wieder nach Koblenz zu meinen Freundinnen«, beklagte sich Lotte, ein blasses Mädchen, das mit seinen etwa zwölf Jahren bereits die Figur einer erwachsenen Frau hatte, mit festem Busen und ausladenden Hüften.
»Bin kein Kleinkind«, maulte Roswitha und zog sich die Decke über den Kopf.
Lotte kletterte die Sprossenleiter hinab. Unten angekommen, streckte sie ihrer Cousine Klara, die zusammengekauert auf ihrer Koje hockte und an den Fingernägeln kaute, die Zunge heraus.
»Blöde Ziege.« Die wesentlich jüngere und kleinere Klara kroch zum
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