Das Land zwischen den Meeren
den Kurs des Seglers im engen Fahrwasser der Elbe zu bestimmen hatte. Ein Quietschen und Rasseln verriet, dass der Anker gelichtet wurde. Plötzlich waren auf der Landseite aufgeregte Rufe zu hören. Die Reisenden eilten an die Steuerbordreling und beobachteten gebannt die Szene am Ufer. Eine junge Frau im schwarzen Reisekostüm, mit einem Hut, dessen leuchtendes Rot wie ein Signal auf ihrem Kopf wirkte, näherte sich mit hastigen Schritten. Hinter ihr ein Bursche, der eine Karre mit Gepäckstücken vor sich herschob.
»Halt, nicht ablegen! Da kommt noch jemand!«, brüllte er den Matrosen zu, die gerade die Leinen klarmachen wollten. Drei Männer lieferten sich ein Wettrudern, um zuerst am Steg zu sein. Jeder wollte die junge Frau in seinem Boot aufnehmen und zum Schiff hinüberbringen. Auf der Kaiser Ferdinand nahmen sämtliche Seeleute Aufstellung. Alle machten lange Hälse und stießen sich zur Seite, um die beste Sicht auf das Geschehen unten an der Bordwand zu haben. Dutzende schrundiger Männerhände mit Teer unter den Fingernägeln streckten sich der jungen Frau entgegen, die behände die eilends hinabgelassene Strickleiter hochkletterte, und halfen ihr an Bord. Andere nahmen die Gepäckstücke entgegen und stellten sie mittschiffs ab. Drei große und zwei kleine Koffer sowie fünf Hutschachteln.
Mit strahlendem Lächeln dankte die Frau ihren Helfern und ging dann schnurstracks auf den Kapitän zu, einen Hünen mit wettergegerbter Haut und nachlässig gestutztem braunem Bart, in dem sich erste Silberfäden zeigten. Er hatte ihr Eintreffen aus einiger Entfernung und mit gefurchter Stirn beobachtet. Die Pfeife in seinem linken Mundwinkel zitterte. Sie streckte ihm die Rechte entgegen.
»Grüß Gott, Herr Kapitän. Ich bin Elisabeth von Wilbrandt. Stellen Sie sich vor, ausgerechnet heute hat ein Fuhrwerk vor meinem Hotel seine gesamte Holzladung verloren. Die Ladeklappe war hinuntergefallen. Zwei Männer mussten mit anpacken, um die Straße wieder frei zu räumen. Danke vielmals, dass Sie mit dem Ablegen gewartet haben!«
Das eben noch missmutige Gesicht des Kapitäns glättete sich. Er nahm die Pfeife aus dem Mund. Seine knarrende Stimme klang nahezu sanftmütig. »Aber das ist doch selbstverständlich, gnädiges Fräulein. Willkommen an Bord! Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit vor. Ich stehe Ihnen immer zu Diensten.«
Doch offenbar verunsicherte ihn der Anblick dieser jungen, so unbekümmert auftretenden Frau doch ein wenig. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich über die Stirn. Dann gab er das Kommando zum Ablegen. Keiner der Passagiere schien schon das Bedürfnis zu verspüren, seine Koje oder Kabine zu suchen. Sie blieben an Deck und verfolgten das Ablegemanöver. Als herrsche ein unausgesprochenes Einverständnis, in diesen bewegenden Minuten zusammenzubleiben. Niemand war gekommen, um den Reisenden vom Land aus noch einmal zuzuwinken. Alle hatten bereits Tage zuvor von ihrer Heimat Abschied genommen, Freunden und Verwandten Lebewohl gesagt.
Ruderboote manövrierten die Kaiser Ferdinand aus dem engen Hafenbecken. Die Matrosen kletterten in die Rahen und entrollten die Stagsegel. Aus ihren rauen Kehlen erklang ein schwungvolles Lied, ihre Hände führten im Takt der Melodie die Arbeit aus, die sie schon unzählige Male verrichtet hatten.
»Auf, Matrosen, die Anker gelichtet / Segel gespannt, den Kompass gerichtet! / Liebchen, ade! Scheiden tut weh / Morgen geht’s in die wogende See.«
Einige der Reisenden trockneten sich verstohlene Tränen oder starrten dumpf auf die Stadt, die ihnen wie das Tor zu einem neuen, unbekannten Leben vorkam.
In einer leichten Brise glitt der Segler die Elbe stromabwärts dahin. Aber Dorothea wollte nicht auf die Silhouette von Hamburg zurückblicken, die achtern kleiner und kleiner wurde, wollte nur noch nach vorn schauen. Sie zitterte vor Aufregung und angespannter Erwartung, sog die feuchtkalte Luft durch die Nase ein und atmete tief in den Brustkorb. Spürte den auffrischenden Wind durch die Kleidung hindurch bis auf die Haut. Die Vorsegel blähten sich, und das Schiff nahm Fahrt auf.
»Sind wir bald da, Mama?« Ein etwa vier Jahre altes Mädchen mit Sommersprossen im ganzen Gesicht zerrte ungeduldig am Ärmel der Mutter. Einige Erwachsene sahen schmunzelnd zu dem Kind hinüber, andere waren in den Anblick der langsam vorüberziehenden Gehöfte inmitten von Wiesen und Feldern am Ufer vertieft, blieben stumm und machten ernste
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