Das Land zwischen den Meeren
aufmerksam zugehört, ungläubig geschaut oder missbilligend den Kopf geschüttelt, dann verständnisvoll genickt. »Ja, irgend so etwas habe ich mir schon gedacht. Dass Sie etwas sehr Trauriges durchgemacht haben und ein geschniegelter alter Fatzke wie der Kaufmann gar nicht Ihr Spezi sein kann. Danke, dass Sie mir alles erzählt haben. Jetzt verstehe ich vieles besser. Es tut mir leid, dass Sie so sehr gelitten haben. Mir wird nur wieder klar, wie gut das Schicksal es mit mir gemeint hat. Dass ich bisher nur die sonnigen Seiten des Lebens kennenlernen durfte.«
Dorothea fühlte sich erleichtert. Weil sie ihr Herz ausgeschüttet und das Gefühl hatte, sie würde Elisabeth schon seit ewigen Zeiten kennen. In diesem Moment mochte sie lieber nicht an das Ende dieser Reise denken, wenn ihre Wege sich trennen würden. Elisabeth ergriff Dorotheas Hand und drückte sie fest. »Wir Österreicher achten zwar sehr auf Etikette, aber eigentlich mag ich es gar nicht so förmlich. Wie wäre es, wenn wir uns duzen würden?«
Dorothea lachte leise auf und erwiderte den Händedruck. »Das war Gedankenlesen. Genau das wollte ich gerade auch vorschlagen.«
September bis Oktober 1848
Nach einhundertfünfundfünfzig Tagen auf dem Meer erreichte die Kaiser Ferdinand den Golf von Nicoya, der die im Westen gelegene Landzunge von Guanacaste vom Festland Costa Ricas trennte. Nur noch wenige Seemeilen, und sie würden in den Hafen von Puntarenas einlaufen. Schroffe Felsen ragten aus dem Meer auf. Kleine und größere, mit Bäumen und Strauchwerk bewachsene Inseln lockten braun gefiederte Pelikane an, die sich in den Baumkronen niederließen und sich dort mit ihren wuchtigen langen Schnäbeln das Gefieder putzten.
Doch dann schlief der Wind ein. Alle Versuche der Seel eute, mit verschiedensten Segelstellungen vom Fleck zu kom men, waren vergeblich. Der Frachtsegler dümpelte vor sich hin, Schildkröten tauchten unter dem Schiff her, sehr zur Begeisterung der Kinder, die solche Tiere bisher nur vom Hörensagen kannten. Silbrig glänzende Fischschwärme zogen dicht unter der Wasseroberfläche vorüber. In Sichtweite lagen zwei weitere Segler, deren Buge in entgegengesetzte Richtungen gen Süden zeigten. Auch sie schaukelten träge auf dem Wasser. Die Stimmung unter den Reisenden wurde zunehmend gereizt. Das Ziel bereits vor Augen, sahen sie sich dazu verdammt, weitere unnütze Stunden an Bord zu verbringen.
Nachdem sich in der Zwischenzeit niemand gemeldet hatte, um die verlorene Kette von Frau Behrens zurückzugeben, machte der Kapitän seine Drohung wahr und ließ Kajüten und Gepäckstücke untersuchen. Die Proteste von Herrn Reimann und Herrn Meier verhallten ungehört. Die Frauen vom Zwischendeck hatten ihre Zweifel, ob die Kette überhaupt wieder auftauchen würde. Vermutlich hatte der Dieb sie längst über Bord geworfen, um nicht überführt zu werden.
Die Passagiere wollten sich gerade zum Abendessen zusammensetzen, als Lotte Kampmann in die Kombüse stürzte und mit hochroten Wangen die Neuigkeit verkündete: »Stellt euch vor, die Kette ist wieder da. Der Untersteuermann hat sie gefunden. Und ratet mal, wo?«
»Bei uns Frauen und bei den Männern nebenan wohl kaum«, stellte Anna Meier mit zufriedener Miene fest und schenkte den Kindern Kräutertee ein.
»Nun sag schon!«, verlangte Lottes Bruder Peter. »Mach es nicht so spannend!«
Lotte griff nach ihrem Becher und trank ihn in einem Zug leer. Sie wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und lächelte vielsagend. »Die Kette lag unter der Koje von Frau Behrens. Sie hatte sich an einem Holzsplitter vom Bettpfosten verhakt. Deswegen ist sie auch bei Seegang nicht hervorgerutscht.«
»Diese unfreundliche, überhebliche Weibsperson!«, ließ Else Reimann verlauten, die sonst nur wohlgesittete Worte von sich gab. Sie nahm einen Zwieback, klopfte ihn aus, um zu prüfen, ob sich dort im Lauf der Reise Maden eingenistet hatten, und tunkte ihn in den Tee. »Bevor diese Frau selbst unter ihrem Bett nachschaut, verdächtigt sie lieber unsere Kinder. Aber die Blamage gönne ich ihr. Die wird hoffentlich in Zukunft vorsichtiger sein mit irgendwelchen Anschuldigungen.«
Nach zwei endlos erscheinenden Tagen kam die ersehnte Brise doch noch auf. Die Kaiser Ferdinand setzte die Segel und steuerte den Hafen von Puntarenas an. Unter Deck regte sich Betriebsamkeit. Alle waren damit beschäftigt, ihre Taschen zu packen. Die Koffer und größeren Gepäckstücke sollten erst dann von den
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