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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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etwas?«
    Die Wirtin murmelte Worte, die sich anhörten wie: »Mein Kind, wo ist mein Kind?« Dann verschwand sie wieder.
    Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung, sie ist nur eine verwirrte, ganz harmlose Frau, versuchte Dorothea sich selbst zu beruhigen. Sie musste plötzlich an den letzten Silvesterabend denken, den sie mit ihren Eltern im Haus eines reichen Schirmfabrikanten am Alten Markt verbracht hatte, eines Schulfreundes des Vaters. Alle Gäste waren elegant gekleidet gewesen, man hatte Belanglosigkeiten ausgetauscht. Die Frauen hatten über die neueste französische Mode gesprochen, die Männer politische Prognosen gewagt. Es hatte Unmengen an Wein und Champagner, Fischterrinen, Suppen, Salaten und anderen erlesenen Speisen gegeben, die zwei eigens eingestellte Köche für dieses Fest zubereitet hatten. Damals hatte sie Alexander seit drei Monaten gekannt und erinnerte sich genau, wie verliebt sie gewesen war, an das Kribbeln im Bauch und an das Glühen der Wangen, wenn sie nur an ihn gedacht hatte. Ihre Zuneigung war erwidert worden, und sie hatte nichts sehnlicher erhofft, als dass Alexander ihr im neuen Jahr einen Antrag machen würde.
    An diesem Tag, genau zwölf Monate später, war sie eine andere, sie lebte in einem anderen Land, und sie wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken, weil die Erinnerung sie wehmütig und traurig stimmte. Sie wollte das kommende Jahr frohen Herzens begrüßen und dankbar annehmen, was es ihr bringen würde.

Januar bis März 1849
    Die Kundschaft, die in Jensens Laden einkaufte, bestand zum größten Teil aus eingewanderten Schweizern und Engländern, aber auch aus Ticos und Ticas, wie die Costaricaner sich selbst nannten, Einheimische mit europäischen Vorfahren. Einwohner indianischer Abstammung, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachten, kauften im Gemischtwarenladen nicht ein, weil hier nur teure importierte Waren zu haben waren.
    Erik Jensen hatte rasch erkannt, dass er durch Dorothea neue Kunden gewonnen hatte und sein Umsatz stieg. »Fräulein Fassbender«, sagte er eines Morgens zu ihr, als sie im Lager nach Honigkerzen suchte, »Sie geben sich redliche Mühe und haben in kurzer Zeit viel gelernt. Ich möchte mich erkenntlich zeigen und Ihnen ein Angebot machen. Das Zimmer bei der Argentinierin ist viel zu schäbig. Sie könnten oben bei mir einziehen. Die Wohnung ist groß genug.« Breitbeinig stand er mitten im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und versperrte ihr den Weg, taxierte sie vom Scheitel bis zur Sohle mit seinen stechend blauen Augen.
    Liebend gern hätte Dorothea eine komfortablere Unterkunft bewohnt. Möglichst eine ohne Kakerlaken, die morgens in den Schuhen steckten, und auch ohne diese fingerlangen, fleischfarbenen Geckos, die nachts die Wände hochkrochen und Insekten vertilgten, wobei sie leise schmatzende Geräusche von sich gaben. Doch mit einem so unberechenbaren, undurchsichtigen Menschen wie Jensen wollte sie niemals unter einem Dach wohnen. Schließlich bezahlte sie für Kost und Unterbringung mit drei Monaten ihrer Arbeitszeit. Und nun musste sie auf die neuerlichen plumpen Avancen ihres Arbeitgebers auch noch mit diplomatischem Geschick antworten.
    »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Jensen, aber Señora Castro Ibarra und ich kommen gut miteinander aus. Es gefällt mir bei ihr. Sie hätten keine bessere Unterkunft für mich aussuchen können.«
    Jensens Mund wurde schmal. Eine Ader auf der Stirn schwoll an. »Sie sollten sich gut überlegen, ob Sie das Angebot eines hanseatischen Kaufmanns ausschlagen. Haben Sie etwa vergessen, was ich für Sie getan habe? Streng genommen könnte ich mich durch Ihre Antwort beleidigt fühlen.«
    Dabei trat Jensen einen Schritt auf Dorothea zu, die tapfer stehen blieb und nicht einmal um Haaresbreite zur Seite wich. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Was sollte sie tun, wenn der Kaufmann noch näher käme? Der missglückte Fluchtversuch auf dem Schiff fiel ihr wieder ein, wo sie mit ihrer Schute unter seinem Arm hängen geblieben und gestürzt war. Aber sie wollte sich nicht noch einmal einschüchtern lassen, zwang sich, ihn unverwandt ruhig und freundlich anzusehen. Jensen streckte eine Hand vor, seine Augen flackerten. Dorothea hielt den Atem an und überlegte, ob wohl jemand sie hören würde, wenn sie um Hilfe schrie. Seine Fingerspitzen berührten schon fast ihre Schulter, als die Türglocke des Ladens schrillte.
    Dorothea verzog keine Miene, wollte sich ihre Erleichterung

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