Das Land zwischen den Meeren
Gerade am Samstag kamen die meisten Kunden. Viele Marktbesucher nutzten die Zeit in der Stadt für weitere Einkäufe.
»Wohin des Weges, schöne Señorita?«, hörte Dorothea eines Sonntags nach dem Besuch der Heiligen Messe eine männliche Stimme hinter ihr herrufen. Und dann schnitt ihr auch schon ein Reiter den Weg ab und ließ sein Pferd unmittelbar vor ihren Füßen zum Stehen kommen. Elegant schwang er sich aus dem Sattel, lüftete den Hut und lächelte breit. Er war jung, hatte ein hübsches, sommersprossiges Gesicht und sprach mit englischem Akzent. »So wie Sie aussehen, stammen Sie sicherlich aus der Schweiz. Dann können Sie mir vermutlich sagen …«
»Ich bin Deutsche«, entgegnete Dorothea knapp und schickte sich zum Weitergehen an.
Der junge Mann vertiefte sein Lächeln. »Ist das die Möglichkeit? Wie meine Großmutter … Ich selbst stamme aus Birmingham. Sagen Sie, Señorita, darf ich Sie auf einen Tee in das kleine englische Lokal am Markt einladen? Ich meine, in der Fremde müssen wir Europäer doch zusammenhalten.«
Dorothea suchte blitzschnell nach einer Ausrede. Um überzeugend zu wirken, legte sie einen Ton des Bedauerns in ihre Stimme. »Leider kann ich Ihre großzügige Einladung nicht annehmen, Señor. Ich muss das Mittagessen für meine drei kleinen Kinder vorbereiten.« Vor Erstaunen riss der Reiter den Mund auf, hob die Schultern und zog sein Pferd weiter, damit Dorothea ungehindert passieren konnte.
Damit niemand sie aufzuhalten wagte, bewegte sie sich fortan immer im Eilschritt und ausschließlich in dem Dreieck zwischen der Kirche, dem Ladengeschäft und ihrer Unterkunft. Auf keinen Fall wollte sie jedoch in Selbstmitleid verfallen und ihr selbst gewähltes Schicksal beklagen. Irgendwann wäre diese Zeit vorüber, und dann würde sie sich ein anderes Zuhause suchen, reisen, Land und Leute kennenlernen. Wenn auch ohne den Mann, den sie immer noch liebte und nach dem sie sich in manch schlafloser Nacht verzehrte.
In Deutschland war vermutlich bereits der erste Schnee gefallen, bald würden Eisschollen auf dem Rhein treiben. Doch im Hochland Costa Ricas hatte der Sommer begonnen. Zwar blieben die Temperaturen im Valle Central das ganze Jahr über konstant, etwa bei zweiundzwanzig Grad. Aber im Gegensatz zur Winterzeit, die von Mai bis November dauerte, regnete es zwischen Dezember und April nur selten. Dorothea hatte seit ihrer Ankunft das Gefühl, einen immerwährenden Frühling zu erleben.
Am ersten Weihnachtstag blieb Jensens Geschäft geschlossen. Da dieser auf einen Montag fiel, hatte Dorothea zwei Tage hintereinander frei. Zwar hatte sie mehrere Einladungen von eingewanderten Kundinnen erhalten, sie und ihre Familien während der Feiertage zu besuchen. Doch sie hatte höflich abgelehnt und behauptet, eine Erkältung auskurieren zu müssen. In Wirklichkeit wollte sie an diesem ersten Weihnachtsfest in der Fremde für sich allein sein und niemandem zur Last fallen.
Und so nutzte sie die Zeit, ihrer Patentante einen ausführlichen Bericht über die ersten Wochen in Costa Rica zu schreiben, einen abgerissenen Knopf anzunähen und einen löchrig gewordenen Rock so geschickt mit einem Flicken zu besetzen, dass er nicht auffiel. Neue Kleidung konnte sie sich nicht leisten. Den Rest vom Geld ihrer Patentante wollte sie als eiserne Reserve für Notfälle unangetastet lassen.
In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr herrschte Hochbetrieb im Laden. Viele der wohlhabenden Kunden planten am Silvesterabend einen Empfang und wollten ihre Gäste mit einem besonderen Wein oder deutschem Gänseschmalz auf einem neuen Essgeschirr überraschen. Täglich musste Dorothea die leer gewordenen Regale im Verkaufsraum mit Waren aus dem Lager auffüllen. Dann saß sie allein am Abendtisch, weil Mercedes Castro Ibarra sich pünktlich um neun Uhr zur Ruhe begab.
Am letzten Tag des Jahres lag Dorothea schlaflos in ihrem Bett. Schemenhaft nahm sie das kleine Fenster wahr, hinter dem die Sterne als winzige Leuchtpunkte zu erkennen waren. Als sie ein Kratzen an der Zimmertür hörte, setzte sie sich erschrocken auf. Da öffnete sich quietschend die Tür. In einem bodenlangen weißen Nachthemd und mit offenem, hüftlangem Haar trat Mercedes Castro Ibarra ins Zimmer. In der Hand hielt sie einen Kerzenleuchter. Sie spähte unter Dorotheas Bett, unter den Stuhl am Fenster und hinter den Reisekoffer hinter der Tür. Dorothea zog sich das Bettlaken bis über die Nase hoch. »Was ist, Mercedes? Suchen Sie
Weitere Kostenlose Bücher