Das Landmädchen und der Lord
versuchte erfolglos, eine unbefangene Miene aufzusetzen. „Fahren wir los?“, schlug sie vor. „Ich glaube, sie warten nicht gern.“
„Offenbar verstehst du viel mehr von Pferden, als ich dachte.“ Harry starrte Toby erneut bedeutsam an. „Später will ich mit dir reden, mein Junge. Wärst du so freundlich, mich nach dem Lunch in der Bibliothek zu treffen?“
„Ja, natürlich, Harry“, murmelte Toby unbehaglich. „Viel Spaß auf Ihrer Fahrt, Susannah.“
Harry folgte seiner Verlobten, als sie das Haus verließ und zu den Pferden ging. Bewundernd streichelte sie die Nüstern. „Wie schön sie sind! Und es war so nett von dir, sie für mich zu kaufen!“
„Gern geschehen.“ Er half ihr auf den Sitz seines Phaetons und setzte sich an ihre Seite. „Würdest du mir deine Fähigkeiten vorführen?“ Als sie zögerte, schaute er sie mit schmalen Augen an. „Toby hat dir gezeigt, wie man ein Gespann lenkt. Das weiß ich. Zum Teufel mit diesem Idioten! Jene Pferde hatte ich ihm zum Geburtstag geschenkt. Für eine Frau sind sie viel zu stark. Nun verstehe ich, warum sie durchgegangen sind. Weil du sie gelenkt hast!“
„Oh …“ Unsicher erwiderte sie seinen Blick. „Sei mir nicht böse. Und deinem Neffen auch nicht. Ich habe ihn gebeten, mir die Zügel zu geben. Am Anfang ging alles gut. Aber dann wurden die Pferde vom Krach der Schüsse erschreckt, galoppierten los, und ich konnte sie nicht bändigen.“
„Ich bin dir nicht böse.“
Aber sie hoffte vergeblich auf ein Lächeln. Sie nahm die Zügel entgegen, die er ihr reichte. Mit der anderen Hand ergriff sie die Peitsche. Dann setzte sie das Gespann in Bewegung.
Schon nach wenigen Sekunden erkannte sie den Unterschied zwischen Tobys Pferden, die ungeduldig zum Aufbruch gedrängt hatten, und diesen beiden Braunen. Willig reagierten sie auf jedes behutsame Rütteln an den Zügeln.
„Großartig!“, rief Susannah. „Was für höfliche Pferde! Beinahe könnte man glauben, eine Londoner Gesellschaftslöwin hätte ihnen Manieren beigebracht.“
Da brach Harry in Gelächter aus. „Freut mich, dass sie dir gefallen. Wenn ich dir einen Rat geben darf – wenn du den Daumen an diese Stelle legst, ist es einfacher.“ Er berührte ihre Hand und demonstrierte, was er meinte.
„Ja, danke, so ist es leichter. Was glaubst du, wann ich an einem Wettrennen teilnehmen dürfte?“
„Willst du das? Manche Damen tun das auf privatem Terrain. Aber es wird nicht gern gesehen. Bist du tapfer genug, um das Getuschel der Klatschmäuler zu ertragen? Und gegen wen würdest du antreten?“
„Nun, vielleicht gegen Toby …“ Dann entsann sie sich, dass sie als Lord Pendletons Verlobte auf die Schicklichkeit achten musste. „Aber es ist wohl besser, ich verzichte darauf. Man soll mich nicht für leichtfertig halten.“
„Diesen Eindruck würdest du nur bei einem Rennen in der Öffentlichkeit erwecken, nicht auf meinem Landsitz. In ein paar Monaten besitzt du vermutlich die nötigen Fähigkeiten. Aber ich fürchte, Toby wird ein Wettrennen mit dir ablehnen.“
„Warum?“
„Wenn er dich gewinnen lässt, würdest du dich ärgern. Und wenn er gewinnt, wirfst du ihm womöglich vor, er wäre ungalant. Solche Skrupel hätte ich nicht.“
Erstaunt starrte sie ihn an. „Würdest du gegen mich antreten?“
„Sobald ich das Gefühl habe, du könntest dich mit mir messen“, erwiderte Harry lächelnd. „Und jetzt lass die Pferde etwas schneller traben. Mal sehen, wozu sie imstande sind.“
„Oh, vielen Dank!“ Ihre Augen strahlten vor Freude. „Und was das Rennen angeht – ich werde dich beim Wort nehmen!“
Zwei Stunden später kehrten sie zum Haus zurück. Susannah war hellauf begeistert. Was sie gelernt hatte, übertraf ihre kühnsten Träume. Harry hatte ihr gezeigt, wie man die Pferde in Galopp und wieder in langsamere Gangarten versetzte. Außerdem hatte er ihr beigebracht, das Gespann perfekt zu wenden.
„Du bist ein wundervoller Lehrer“, erklärte sie, während ein Stallknecht die Zügel übernahm. Harry hob sie vom Sitz des Phaetons herunter, blieb vor ihr stehen, und seine Hände berührten ihre Taille immer noch. „Diese Lektionen habe ich wirklich sehr genossen.“
„Morgen fahren wir wieder aus“, versprach er. Sein Lächeln raubte ihr den Atem. Sekundenlang dachte sie, er würde sie so küssen, wie sie es ersehnte. Aber dann ließ er sie los. „Jetzt müssen wir hineingehen. Mama erwartet uns zum Lunch. Heute Nachmittag bist du mit Toby
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