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Das launische Eiland.

Das launische Eiland.

Titel: Das launische Eiland. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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zu Tisch saß jedoch Don Angelino Villasevaglios, der zuerst auf seiner Terrasse in der Sonne geschmort hatte und sich jetzt von Nino eine Decke hatte bringen lassen, denn das Wetter schlug tatsächlich um.

    Auch der Prinz von Sommatino speiste nicht zu Mittag, sondern saß unbeweglich auf seinem Sessel, verloren in Gedanken an das Perpetuum mobile.

    Masino Bonocore aß nicht. Wie erstarrt saß er am offenen Fenster und spürte, wie sich sein Blut in Bewegung setzte, um wieder gleichmäßig in jeder Vene zu fließen und im rechten Maß sein Herz zu erreichen.

    »Wie viele sind wir hier im Ort?« hatte sich eines Tages der Baron Raccuglia während einer Unterredung mit dem Ingenieur Lemonnier gefragt, und noch bevor der andere überhaupt den Mund hatte aufmachen können, hatte er auch schon die Antwort parat: »Acht oder neun Familien von unserem Stand und rund dreißig Bürgerfamilien. Also so um die dreihundert Personen.«
      »Aber wenn das Dorf doch neuntausend Seelen zählt!« hatte Lemonnier ihm entgegengehalten.
      »Zählt? Was zählt?« hatte sich der Baron ernsthaft gewundert. »Der Rest zählt doch nicht, verehrter Freund.«
      »Sie mögen nicht zählen, aber es gibt sie«, hatte Lemonnier leicht gereizt auf seinem Standpunkt beharrt. »Sie werden ja wohl nicht behaupten wollen, daß sie unsichtbar sind.«
    Ohne ein Wort hatte der Baron ihn einfach nur angesehen, denn sofort war ihm der Zweifel gekommen, ob sich hinter der höflichen und zivilisierten Fassade des Piemontesers nicht ein gefährlicher Aufrührergeist verbarg. Aber der Baron war im Recht und der Ingenieur im Unrecht: Es gab sie schon, die anderen achttausendsiebenhundert Seelen – offen gesagt, war es übertrieben, sie so zu bezeichnen –, aber sie zählten weniger als nichts, so daß man sie genausogut beiseite lassen konnte.
      »Kommen Sie mal an einem Tag mit mir, wenn am Hafen viel zu verladen ist und starker Schirokko weht«, hatte der Professor Baldassare Marullo in seinem verdienstvollen Band Vi gàta in seinen wahrscheinlichen Anfängen, in seiner Entwicklung, in seinen Aktivitäten und in seinen Bedürfnissen geschrieben. »Auf einem winzigen Raum geht es zu wie in einem Ameisenhaufen: Menschen, Karren, Brückenarme, Ladungen, die von einem Boot aufs andere geschafft werden, und dazwischen eilen die Männer ohne Rast, Wagen treffen ein und fahren wieder ab, Stimmengewirr. Die Art und Weise, wie in Vigàta Schwefel verladen wird, muß von Grund auf neu organisiert werden, um überhaupt eines menschlichen Wesens würdig zu werden: Das, was die Schauerleute, die Lastenträger vollbringen, ist ein Angriff auf das Gefühl menschlicher Solidarität. Junge und alte Männer, auch junge Burschen gehen gebeugt unter der Last, die sie auf den Schultern tragen. Der erste tritt an die Lastenheber heran, von denen er die Ladung erhält, aufgepackt den ersten, den zweiten, den dritten Lastenkorb, und so geht's weiter hopplahopp. Auf den ersten folgt der zweite, auf den zweiten ein dritter Mann, und so werden daraus zehn, zwanzig, hundert Männer, die längs der Ladelinie wie Webschiffchen den ganzen Tag hin und her flitzen, von der Laufgewichtswaage oder vom Wagen zum Boot und wieder zurück, ohne daß die leiseste Klage laut wird, sich gegenseitig anfeuernd, antreibend und womöglich auch noch scherzend.«
    Nicht »mit der Menschenwürde vereinbar« also. Und wer etwas Menschenunwürdiges tat, war in den Augen des Barons Raccuglia kein Mensch und konnte es auch niemals sein: Auch weil der Professor Marullo vergessen hatte zu sagen, daß der Lastenkorb beziehungsweise die zwei oder drei Körbe, die jeder Träger auf dem Buckel trug, unter der Hitze und dem Schweiß an der Druckstelle zwischen Hals und Schulter eine offene Wunde verursachten, die bei jeder neuen Ladung blutete.
      »Aber jetzt ziehen Sie doch nicht so ein Gesicht«, hatte der Baron Raccuglia gesagt, als Lemonnier diese Szene zum erstenmal mit eigenen Augen verfolgte und entsetzt darüber war. »Die lassen sich von so ein paar Tropfen Blut nicht beeindrucken, wissen Sie? Die sind sogar froh darüber.«
    »Froh?«
      »Ja, genau. Denn das bedeutet, daß sie Arbeit haben. Wenn sie arbeitslos sind, pflegen sie nämlich zu sagen: Meine Wunde ist verheilt.«
    »Ich verstehe.«
      »Außerdem ist daran nichts Gefährliches, wissen Sie? Schwefel und Meerwasser sind zwei Desinfizierungsmittel, die ihresgleichen suchen.«
      Und außer den Schauerleuten und den

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