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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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alle wollten nur ihr Hemdchen, aber keiner half ihr aus der Grube.
    »Keiner hat mir je geholfen«, wiederholte sie für sich, leise und bitter. Mit glänzenden Augen sah sie zu Perdu. »Nun?«, sagte sie, »wie blöde bin ich?«
    »Nicht sehr«, antwortete er.
    Wirklich gelesen hatte Anna zuletzt, als sie Studentin war. José Saramagos Die Stadt der Blinden. Es hatte sie ratlos zurückgelassen.
    »Kein Wunder«, sagte Perdu. »Das Buch ist keins für jene, die das Leben beginnen. Sondern für die in der Mitte ihrer Jahre. Die sich fragen, wo zum Teufel die erste Hälfte eigentlich hin ist. Die aufblicken von ihren Fußspitzen, die sie emsig voreinander gesetzt haben, ohne zu schauen, wohin sie eigentlich so fleißig und brav rennen. Blind, obwohl sie sehen können. Erst die Lebensblinden brauchen Saramagos Fabel. Sie, Anna, Sie können noch sehen.«
    Später hatte Anna nicht mehr gelesen. Sondern gearbeitet. Zu viel, zu lang, sie schichtete immer mehr Erschöpfung in sich auf. Bis heute hatte sie es nicht geschafft, auch nur einmal einen Mann in einer Werbung für Putzmittel oder Babywindeln unterzubringen.
    »Die Werbung ist die letzte Bastion der Patriarchen«, teilte sie Perdu und dem andächtig lauschenden Jordan mit, »noch vor dem Militär. Nur in der Reklame ist die Welt noch in Ordnung.«
    Nach all diesen Bekenntnissen lehnte sie sich zurück.
    »Und?«, fragte ihr Gesichtsausdruck. »Bin ich heilbar? Sagen Sie mir die schonungslose Wahrheit.«
    Ihre Antworten beeinflussten Perdus Buchauswahl nicht im Geringsten. Sie sollten ihn allein mit Annas Stimme, ihrer Stimmhöhe und ihren Sprechgewohnheiten vertraut machen.
    Perdu sammelte jene Wörter, die im Strom der Allgemeinphrasen leuchtend auftauchten. Die Leuchtwörter waren es, die offenbarten, wie diese Frau das Leben sah und roch und fühlte. Was sie wirklich für wichtig hielt, was sie beschäftigte und wie es ihr zurzeit ging. Was sie verstecken wollte, unter vielem Wortgewölk. Schmerzen und Sehnsucht.
    Monsieur Perdu angelte diese Worte heraus. Anna sagte häufig: »Das war so nicht geplant« und »Damit habe ich nicht gerechnet«. Sie redete von »zahllosen« Versuchen und »Alpträumen hoch zwei«. Sie lebte in der Mathematik, einer Kulturtechnik, die Irrationalität und Einschätzungen verdrängte. Sie verbot sich, intuitiv zu urteilen und das Unmögliche für möglich zu halten.
    Aber das war nur der eine Teil, den Perdu erlauschte und sich merkte: das, was die Seele unglücklich machte.
    Dann gab es noch den zweiten Teil. Das, was die Seele glücklich machte. Monsieur Perdu wusste, dass die Beschaffenheit der Dinge, die ein Mensch liebt, seine Sprache ebenso einfärbt.
    Madame Bernard, die Hausherrin der No. 27, übertrug ihre Leidenschaft für Stoffe auf Häuser und Personen: »Manieren wie ein schlecht gebügeltes Polyesterhemd« war einer ihrer beliebten Sätze. Die Pianistin, Clara Violette, drückte sich in Musik aus: »Die Kleine von den Goldenbergs besetzt im Leben ihrer Mutter nur die dritte Bratsche.« Der Lebensmittelhändler Goldenberg sah die Welt in Geschmacksempfindungen, sprach von einem Charakter als »verfault«, einer Beförderung als »überreif«. Seine Kleine, Brigitte, die »dritte Bratsche«, liebte das Meer, den Magnet der Empfindsamen. Die Vierzehnjährige, eine Frühschönheit, hatte Max Jordan mit »dem Blick von Cassis auf das Meer« verglichen, »tief und fern«. Natürlich war die dritte Bratsche in den Schriftsteller verliebt. Bis vor kurzem hatte Brigitte ein Junge sein wollen. Aber nun wollte sie dringend eine Frau werden.
    Perdu versprach sich selbst, Brigitte bald ein Buch mitzubringen, das ihr eine Rettungsinsel im Meer der ersten Liebe sein konnte.
    »Bitten Sie eigentlich oft um Entschuldigung?«, fragte Perdu Anna nun. Frauen fühlten sich immer schuldiger, als sie waren.
    »Meinen Sie: Entschuldige, ich habe noch nicht ausgeredet? Oder eher: Entschuldige, dass ich in dich verliebt bin und dir nur Schwierigkeiten machen werde?«
    »Beides. Jede Sorte Bitte um Ent-Schuldigung. Es kann sein, dass Sie sich damit angewöhnt haben, sich für alles schuldig zu fühlen, was Sie sind. Oft prägen nicht wir die Worte, sondern die Worte, die wir häufig benutzen, prägen uns.«
    »Sie sind ein seltsamer Buchhändler, wissen Sie das?«
    »Ja. Das weiß ich, Mademoiselle Anna.«
    Monsieur Perdu ließ Jordan Dutzende Bücher aus der »Bibliothek der Gefühle« anschleppen.
    »Hier, meine Liebe. Romane für den Eigensinn,

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