Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
vermutlich freuen.«
Monsieur Perdu ging weiter, bevor Goldenberg einen Rückzieher machen konnte.
Das wird er ja sowieso.
Natürlich würden am Ende bei der Sprechstunde nur Mütter sitzen – und nicht über die Aufklärung ihres geschlechtsreifen Nachwuchses reden. Die meisten wünschten sich Aufklärungsbücher für Männer, die den Herren vermittelten, wo bei Frauen eigentlich oben und unten ist.
Perdu gab den Code an der Haupttür ein und öffnete. Er war noch keinen Meter weit gekommen, da kullerte Madame Rosalette mit ihrem Mops unter dem Arm aus ihrer Concierge-Loge. Mops Edith klebte missmutig unter Rosalettes voluminösem Busen.
»Monsieur Perdu, endlich sind Sie da!«
»Eine neue Haarfarbe, Madame?«, fragte er, während er den Liftknopf drückte.
Ihre vom Putzen gerötete Hand flog an ihren Haarpuff.
»Spanish-rosé. Nur eine Nuance dunkler als Sherry-brut. Aber doch eleganter, meine ich. Wie Sie das immer merken! Aber, Monsieur, ich muss Ihnen etwas gestehen.«
Sie ließ ihre Lider flattern. Der Mops hechelte dazu.
»Wenn es ein Geheimnis ist, werde ich es sofort wieder vergessen, Madame.«
Rosalette besaß eine chronologische Ader. Sie liebte es, die Neurosen, Intimitäten und Gewohnheiten ihrer Mitmenschen zu beobachten, auf der Skala des Anstands zu kartographieren und ihre Ansichten kundig an die anderen Mitmenschen weiterzureichen. Darin war sie großzügig.
»Ach, Sie! Und das geht mich ja auch gar nichts an, ob Madame Gulliver mit diesen jungen Männern glücklich wird. Nein, nein. Es ist … da war … nun ja … ein Buch.«
Perdu drückte erneut auf den Liftknopf.
»Und dieses Buch haben Sie bei einem anderen Buchhändler gekauft? Verziehen, Madame Rosalette, verziehen.«
»Nein. Schlimmer. Aus einer Bücherkiste am Montmartre gefischt, für sagenhafte fünfzig Cent. Aber Sie selbst haben gesagt, wenn ein Buch älter als zwanzig Jahre ist, darf ich dafür nur ein paar Centimes ausgeben und es aus einer Kiste vor dem Ofen retten.«
»Sicher. Das sagte ich.«
Was ist eigentlich mit diesem treulosen Lift los?
Jetzt beugte sich Rosalette vor, und ihr Kaffee-Cognac-Atmen vermischte sich mit dem ihres Hundes.
»Aber das hätte ich mal lieber nicht gemacht. Diese Kakerlakengeschichte, furchtbar! Wie die Mutter ihren eigenen Sohn mit dem Besen jagte, grässlich. Ich habe tagelang einen Putzfimmel gehabt. Ist das normal bei diesem Monsieur Kafka?«
»Sie haben es erfasst, Madame. Andere müssen dafür jahrzehntelang studieren.«
Madame Rosalette lächelte verständnislos, aber beglückt.
»Ach ja, und der Lift ist defekt. Er hängt mal wieder zwischen den Goldenbergs und Madame Gulliver.«
Das hieß, der Sommer würde noch heute Nacht kommen. Er kam immer, wenn der Lift stecken blieb.
Perdu nahm die Treppe, stets zwei der bunten Stufen mit den bretonischen, mexikanischen und portugiesischen Kacheln auf einmal. Madame Bernard, die Hausbesitzerin, liebte Muster; sie waren für sie die »Schuhe des Hauses, und wie bei einer Dame schließt man von den Schuhen auf den Charakter.«
Unter diesem Gesichtspunkt konnte der nächstbeste Einbrecher von den Treppen im Haus der Rue Montagnard No. 27 darauf schließen, dass es sich um ein Geschöpf mit spektakulären Launen handelte.
Perdu kam fast bis zum ersten Stock. Dann schob sich ihm oben auf dem Treppenabsatz resolut ein Paar maisgelber Pantoletten mit Federbüscheln auf den Zehenriemen in den Blick.
Im ersten Stock, über Madame Rosalette, residierte Che, der blinde Podologe. Er begleitete oft Madame Bomme (ebenfalls erster Stock, gegenüber) zum Einkauf bei dem jüdischen Kaufmann Goldenberg (zweiter Stock) und trug der Bomme, ehemalige Sekretärin eines berühmten Kartenlegers, die Tasche. So schoben sie sich über das Trottoir: der Blinde untergehakt bei der alten Dame mit Rollator. Begleitet wurde das Duo oft von Kofi.
Kofi – was auf Ghanaisch »Freitag« bedeutete – war eines Tages aus den Banlieues in die No. 27 gekommen. Er war tiefschwarz, trug Goldketten über seinen Hiphop-Kapuzenshirts und einen Kreolen-Ohrring. Ein schöner Junge, »eine Mischung aus Grace Jones und jungem Jaguar«, fand Madame Bomme. Kofi trug oft ihre weiße Chanel-Handtasche und war Ziel von misstrauischen Blicken. Er erledigte Hausmeisterarbeiten oder fertigte Rohlederfiguren an und bemalte sie mit Symbolen, die keiner aus dem Haus verstand.
Aber es war weder Che noch Kofi und auch nicht Madame Bommes Rollator, der sich Perdu in den Weg
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