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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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vor einer Schleusentür.
    Vorsicht vor Frauen, die immer schwach sein wollen. Die lassen Männern keine Schwäche durchgehen.
    Aber der Skipper hat das letzte Wort.
    Oder seine Frau.
    Aber irgendwann wieder anlegen? Einparken mit diesem Ding war in etwa so leicht, wie nächtliche Gedanken abzuschalten.
    Ach, was. Er würde heute Abend einfach eine besonders schöne, lange, nachsichtige Kaimauer ansteuern, sanft die Seitenruder betätigen, wenn er sie fand, und … dann?
    Vielleicht sollte er lieber eine Uferböschung anpeilen.
    Oder einfach durchfahren, bis ans Ende meines Lebens.
    Aus einem gepflegten Garten am Ufer schaute eine Gruppe Frauen zu ihm herüber. Eine von ihnen winkte. Ihnen kamen selten Lastkähne oder flämische Frachter entgegen, Lulus entfernte Vorfahren, gesteuert von gleichmütigen Kapitänen, die lässig die Füße hochgelegt hatten und das große, leichtgängige Steuerrad mit einem Daumen lenkten.
    Dann, auf einmal, hörte die Zivilisation auf. Nach Melun tauchten sie ein in sommerliches Grün.
    Und wie es roch! So rein, so frisch und sauber.
    Aber da war noch eine Sache, die völlig anders war als in Paris. Etwas ganz Bestimmtes fehlte. Etwas, woran sich Perdu aber so sehr gewöhnt hatte, dass ihm die Abwesenheit leichten Schwindel und ein Summen im Ohr bescherte.
    Als er begriff, was es war, durchströmte ihn ungeheure Erleichterung.
    Es fehlte das Rauschen der Autos, das Röhren der Metro, das Summen der Klimaanlagen. Das Surren und Murmeln von Millionen von Maschinen und Getrieben und Liften und Rolltreppen. Es fehlten die Geräusche von Lkw-Rückwärtsgängen, Zugbremsen oder Absätzen auf Kies und Stein. Die basslastige Musik des Rüpels zwei Häuser weiter, das Knallen der Skateboards, das Knattern der Mofas.
    Es war eine Sonntagsruhe, die Perdu das erste Mal so satt und gewachsen gespürt hatte, als sein Vater und seine Mutter ihn zu Verwandten in die Bretagne mitnahmen. Dort, zwischen Pont-Aven und Kerdruc, war ihm die Stille vorgekommen wie das wahre Leben, das sich im Finistère, am Ende der Welt, vor den Städtern versteckte. Paris war ihm als gigantische Maschine erschienen, die den Bewohnern tief brummend eine Illusionswelt produzierte. Sie schläferte ein mit Labordüften, die die Natur nachahmten, lullte die Menschen ein mit Klängen, mit künstlichem Licht und falschem Sauerstoff. Wie bei E. M. Forster, den er als Junge geliebt hatte. Als dessen literarische »Maschine« eines Tages aussetzt, sterben die Leute, die sich bis dahin nur per Computerbildschirm unterhielten, an plötzlicher Stille, reiner Sonne und der Intensität ihrer eigenen, ungefilterten Sinneswahrnehmungen. Sie sterben an zu viel Leben.
    Genauso kam sich Jean Perdu jetzt vor: überrollt von überintensiven Wahrnehmungen, die er in der Stadt nie gehabt hatte.
    Wie seine Lunge schmerzte, als er tief einatmete! Wie seine Ohren knackten in dieser ungekannten Freiheit der Ruhe! Wie seine Augen sich erholten, weil sie lebendige Formen sahen.
    Der Duft des Flusses, die seidige Luft, die Höhe über seinem Kopf. Er hatte diese Ruhe und Weite zuletzt gespürt, als Manon und er durch die Camargue geritten waren, im späten, pastellblauen Sommer. Die Tage waren noch so licht und heiß wie eine Ofenplatte gewesen. In den Nächten aber hatten die Halme der Wiesen, die Wälder an den moorigen Seen schon Tau geleckt. Die Luft war von Herbstduft durchdrungen, vom Salz der Salinen. Es roch nach den Lagerfeuern der Roma und Menouches, die, verborgen zwischen Stierweiden, Flamingokolonien und alten, vergessenen Obstplantagen, in ihren Sommerlagern lebten.
    Jean und Manon ritten auf zwei schlanken, trittsicheren Schimmeln zwischen einsamen Seenplatten und kurvigen kleinen Straßen, die im Wald endeten, bis zu den vergessenen Stränden. Nur diese Pferde, die Camargue-Geborenen, die als Einzige mit dem Maul unter Wasser fressen konnten, fanden hier noch hin, in die endlose, wasserdurchspülte Einsamkeit.
    So eine menschenleere Weite. So eine menschenferne Ruhe.
    »Weißt du noch, Jean? Du und ich, Adam und Eva am Ende der Welt?«
    Wie lachend Manons Stimme sein konnte. Lachende Schmelzschokolade.
    Ja, es war, als hätten sie eine fremde Welt am Ende ihrer eigenen entdeckt, unbedrängt geblieben in den letzten zweitausend Jahren vom Mensch und seinem Wahn, die Natur in Städte, Straßen und Supermärkte umzuwandeln.
    Nirgends ein hoher Baum, kein Hügel, kein Haus. Nur der Himmel und darunter der eigene Kopf als Begrenzung. Sie sahen

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