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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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einen Stapel Pläne. Die Karten zeigten ein dichtes Netz aus blauen Schiffsstraßen, aus Kanälen, Marinas und Schleusen.
    Als Jordan ihn fragend musterte, gab Monsieur Perdu mehr Gas. Den Blick auf das Wasser gerichtet, sagte er: »Es heißt bei Sanary, dass man über das Wasser in den Süden fahren muss, um Antworten auf Träume zu bekommen. Und dass man sich dort wieder finden kann, aber nur, wenn man auf dem Weg dorthin verloren geht, ganz und gar verloren. Vor Liebe. Vor Sehnsucht. Vor Angst. Im Süden lauscht man dem Meer, um zu begreifen, dass sich Lachen und Weinen genau gleich anhören und die Seele manchmal weinen muss, um glücklich zu sein.«
    In seiner Brust erwachte ein Vogel, und er entfaltete vorsichtig, erstaunt, dass er noch lebte, seine Schwingen. Er wollte hinaus. Er wollte seine Brust aufbrechen und sein Herz mitnehmen, wollte in den Himmel aufsteigen.
    »Ich komme«, murmelte Jean Perdu. »Ich komme, Manon.«

Manons Reisetagebuch

Auf dem Weg in mein Leben, zwischen Avignon und Lyon
30. Juli 1986
Dass sie nicht noch alle mit eingestiegen sind, ist ein Wunder. Es war ja schon enervierend genug, dass sie (die Eltern, Tante »Frauen brauchen gar keine Männer«-Julia, die Cousinen »Ich-bin-zu-dick«-Daphne und »Ich-bin-immer-so-müde«-Nicolette) von ihrem Thymian-Hügel runter zu uns ins Tal und mit nach Avignon gekommen sind, um zu sehen, wie ich wahrhaftig in den Schnellzug Marseille–Paris steige. Ich vermute, sie wollten nur alle mal wieder in eine richtige Stadt und ins Kino und sich ein paar Prince-Platten kaufen.
Luc kam nicht mit. Er hatte Sorge, dass ich nicht gehe, wenn er am Bahnhof ist. Und es stimmt, ich kann auf hundert Meter sehen, wie es ihm geht, allein an der Art, wie er steht oder sitzt und seine Schultern und den Kopf hält. Er ist Südfranzose durch und durch, seine Seele ist Feuer und Wein, er ist nie kaltblütig, er kann nichts ohne ein Gefühl tun, es ist ihm nie etwas gleichgültig. Es heißt, in Paris ist den meisten das meiste völlig gleichgültig.
Ich stehe am Fenster des Expresszuges und komme mir jung und erwachsen zugleich vor. Zum ersten Mal nehme ich wahrhaftig Abschied von der Heimat. Ich sehe sie eigentlich zum ersten Mal, als ich mich Kilometer um Kilometer von ihr fortbewege. Der lichtgetränkte Himmel, das Rufen der Zikaden aus den Jahrhundertbäumen, die Winde, die um jedes Mandelblatt ringen. Die Hitze, die wie ein Fieber ist. Das goldene Beben und Funkeln in der Luft, wenn die Sonne versinkt und die steilen Berge und ihre Dorfkronen rosa- und honigfarben färbt. Und immer gibt das Land, es hört nicht auf, uns entgegenzuwachsen: Es drängt Rosmarin und Thymian aus den Steinen, die Kirschen platzen fast aus ihren Schalen, die prallen Lindensamen riechen wie das Lachen der Mädchen, wenn die Erntejungen im Schatten der Platanen zu ihnen kommen. Die Flüsse leuchten wie türkisfarbene, dünne Schnürfäden zwischen den schroffen Felsen, und im Süden glänzt ein Meer so beißend blau, so blau wie die Flecken auf der Haut von den schwarzen Oliven, wenn man sich unter einem der Bäume geliebt hat … Ständig kommt das Land dem Menschen nahe, ganz dicht, es ist gnadenlos. Die Dornen. Die Felsen. Der Duft. Papa sagt, die Provence hat Menschen aus den Bäumen und bunten Felsen und Quellen gemacht und sie Franzosen getauft. Sie sind holzig und biegsam, versteinert und stark, sie reden aus den Tiefen ihrer Schichten und kochen so schnell hoch wie ein Topf Wasser auf dem Ofen.
Schon spüre ich, wie die Hitze nachlässt, der Himmel niedriger wird und sein Kobaltstrahlen verliert … ich sehe die Formen des Landes weicher und schwächer werden, je weiter wir nach Norden streben. Kalter, zynischer Norden! Kannst du lieben?
Natürlich hat Maman Angst, dass mir in Paris etwas passieren könnte. Sie denkt weniger, dass mich eine der Bomben der Libanesischen Fraktion zersplittert, wie sie seit Februar in der Galerie Lafayette und auf der Champs-Élysées hochgegangen sind – sondern eher ein Mann. Oder, bewahre, eine Frau. Eine von den St.-Germain-Intellektuellen, die alles im Kopf, aber nichts im Gefühl haben und die mir das Leben in zugigen Künstlerhaushalten schmackhaft machen könnten, in denen zum Schluss doch wieder die Frauen den Herren Kreativen die Pinsel auswaschen.
Ich glaube, Maman sorgt sich, dass ich fern von Bonnieux und seinen Atlaszedern, Vermentino-Reben und rosafarbenen Dämmerungen etwas entdecken könnte, was mein zukünftiges Leben in Gefahr

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