Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
wilde Pferde, die in Herden vorbeizogen. Reiher und Wildgänse angelten nach Fischen, Schlangen verfolgten Smaragdeidechsen. Sie spürten all die Gebete Tausender Wanderer, die die Rhône von ihrer Quelle unter dem Gletscher mit in dieses gewaltige Delta verschleppt hatte und die nun zwischen Ginster, Weiden und niedrigen Bäumen umherlichterten.
Die Morgen waren von einer Frische und Unschuld, die ihn sprachlos gemacht hatten vor Dankbarkeit, geboren worden zu sein. Jeden Tag war er in dem Licht der aufgehenden Sonne im Mittelmeer geschwommen, er war nackt und johlend die feinsandigen, weißen Strände auf und ab gerannt und hatte sich eins mit sich und dieser natürlichen Einsamkeit gefühlt. So voller Kraft.
Manon war voller ehrlicher Bewunderung gewesen, wie er geschwommen war, nach Fischlein gegriffen und welche gefangen hatte. Sie hatten begonnen, sich die Zivilisation abzustreifen. Jean ließ sich einen Bart wachsen, Manon ihr Haar über den Busen fallen, während sie nackt auf ihrem gutmütigen, verständigen Tier mit den kleinen Pferdeohren ritt. Sie beide wurden braun wie die Kastanien, und wenn sie sich abends neben dem prasselnden Treibholzfeuer im noch warmen Strandsand liebten, genoss Jean die süßherbe Mischung auf ihrer Haut. Er schmeckte das Salz des Meeres, das Salz ihres Schweißes, das Salz der Deltawiesen, in denen Fluss und Meer ineinanderflossen wie Liebende.
Wenn er sich dem schwarzem Flaum zwischen ihren Schenkeln näherte, schlug Jean der hypnotische Geruch von Weiblichkeit und Leben entgegen. Manon roch nach der Stute, die sie so eng und beherrscht ritt, nach Freiheit. Sie duftete nach einer Mixtur orientalischer Gewürze und der Süße von Blumen und Honig – sie roch nach Frau!
Unaufhörlich hatte sie seinen Namen geflüstert, geseufzt, hatte die Buchstaben eingehüllt in ihren lustvoll keuchenden Atemstrom.
»Jean! Jean!«
In diesen Nächten war er mehr Mann gewesen als je zuvor. Sie hatte sich ihm weit geöffnet, entgegengedrängt, seinem Mund, seinem Sein, seinem Schwanz. Und in ihren offenen, seinen Blick festhaltenden Augen hatte sich immer der Mond gespiegelt. Erst eine Sichel, dann ein halber Kuchen, schließlich die volle, runde Röte.
Eine halbe Mondreise waren sie in der Camargue gewesen, waren zu Wilden geworden, zu Adam und Eva in der Schilfhütte. Sie waren Flüchtlinge und Entdecker; und er hatte nie gefragt, wen Manon hatte wie belügen müssen, um dort, am Ende der Welt, mit den Stieren, Flamingos und Pferden zu träumen.
Nachts hatte nur ihr Atem diese absolute Stille unter dem Sternenhimmel getränkt. Manons süßer, ruhiger, tiefer Atem.
Sie war das Atmen der Welt.
Erst als Monsieur Perdu dieses Bild der schlafenden, atmenden Manon am wilden, fremden Ende des Südens langsam losließ, so langsam, als ließe er ein Papierboot zu Wasser, bemerkte er, dass er die ganze Zeit mit weit offenen Augen vor sich hin gestarrt hatte. Und dass er sich an seine Geliebte erinnern konnte, ohne zusammenzubrechen.
16
N ehmen Sie doch endlich mal Ihre Ohrenschützer ab, Jordan. Hören Sie doch, wie ruhig es ist.«
»Pscht! Nicht so laut! Und nennen Sie mich nicht Jordan. Es ist besser, wenn ich mir einen Decknamen zulege.«
»Aha. Und welchen?«
»Ich bin jetzt Jean. Jean Perdu.«
»Mit Verlaub: Ich bin Jean Perdu.«
»Ja, genial, nicht wahr? Wollen wir du sagen?«
»Nein, wollen wir nicht.«
Jordan rückte die Ohrenschützer nach hinten. Dann schnupperte er.
»Hier riecht’s nach Fischlaich.«
»Sie riechen mit den Ohren?«
»Was ist, wenn ich in den Fischlaich falle und mich lauter unterentwickelte Katzenwelse auffressen?«
»Monsieur Jordan, die meisten Leute gehen nur dann über Bord, wenn sie betrunken über die Reling pinkeln. Benutzen Sie das Klo, dann werden Sie überleben. Außerdem fressen Katzenwelse keine Menschen.«
»Ach, ja? Wo steht das? Auch in einem Buch? Sie wissen doch: Was Leute in Büchern schreiben, ist immer nur die Wahrheit, die sie gerade eben von ihrem Schreibtisch aus erkennen. Ich meine, die Welt war ja auch mal eine Scheibe und stand im All rum wie ein vergessenes Kantinentablett.« Max Jordan streckte sich. Dabei knurrte sein Magen, sehr laut und vorwurfsvoll. »Wir sollten uns was zu essen besorgen.«
»Im Kühlschrank finden Sie …«
»… hauptsächlich Katzenfutter. Herz und Huhn, nein danke.«
»Vergessen Sie nicht die Dose weiße Bohnen.« Sie mussten wirklich dringend einkaufen. Nur: Wovon? Perdu hatte kaum Geld in der
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