Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
der Atemstrom die Haut erregte: »Ich bin verrückt nach deinem Tango. Du machst mich wahnsinnig mit deinem Tanz. Mein Herz wird deins singen lassen vor Freiheit …«
Aber hier gab es keine Tangoflüsterer. Hier lief alles über die Augen.
»Männer lassen ihren Blick diskret schweifen«, raunte Perdu Max die Regeln des Cabeceo zu.
»Woher wissen Sie das alles? Auch aus einem …«
»Nein. Nicht aus einem Buch. Hören Sie zu: Schauen Sie langsam, aber nicht zu langsam, herum. So suchen Sie sich aus, mit wem Sie bei der nächsten Tanda, der Viererfolge, tanzen wollen, oder prüfen, wer mit Ihnen tanzen will. Sie fragen mit einem langen, direkten Blick. Wird er erwidert, gar mit einem Nicken, einem halben Lächeln, gilt die Aufforderung als angenommen. Schaut sie zur Seite, heißt das: Nein, danke.«
»Das ist gut«, flüsterte Max. »Dieses ›Nein, danke‹ ist so still, dass keiner fürchten muss, sich zu blamieren.«
»Exakt. Es ist eine galante Geste, wenn Sie aufstehen und die Dame abholen. Bei der Gelegenheit können Sie auf dem Weg auch nachprüfen, ob Sie wirklich gemeint waren. Oder der Herr schräg hinter Ihnen.«
»Und nach dem Tanz? Lade ich sie ein, zu einem Getränk?«
»Nein. Sie bringen sie zu ihrem Platz, bedanken sich und gehen auf die Männerseite zurück. Tango verpflichtet zu nichts. Sie teilen für drei, vier Lieder Sehnsüchte, Hoffnungen und auch Lust. Manche sagen: Es ist wie Sex, nur besser. Und öfter. Aber danach ist es vorbei. Es wäre höchst unschicklich, mehr als eine Tanda mit einer Frau zu tanzen. Das gilt als schlechte Erziehung.«
Unter gesenkten Lidern beobachteten sie die Paare. Nach einiger Zeit zeigte Perdu mit dem Kinn auf eine Frau, die Anfang fünfzig, aber auch Ende sechzig sein konnte. Schwarzes Haar mit grauen Strähnen, tief im Nacken geknotet wie bei einer Flamencotänzerin. Ein gut gepflegtes Tanzkleid. Drei Eheringe an einem Finger. Sie hielt sich wie eine Ballerina, war schlank und von einer flexiblen Festigkeit, wie ein junger Brombeerzweig. Eine hervorragende Tänzerin, sicher und genau, und dabei doch so herzensweich, dass sie um die Bewegungslosigkeit oder Zaghaftigkeit ihrer Partner herumtanzte, des Mannes Makel hinter ihrer Grazie versteckte. Sie machte, dass alles leicht aussah.
»Das wird Ihre Tanzpartnerin, Jordan.«
»Die? Die ist viel zu gut. Ich hab Angst!«
»Merken Sie sich das Gefühl. Sie werden eines Tages darüber schreiben wollen, und dann wäre es gut zu wissen, wie sie sich anfühlt, diese Angst zu tanzen. Und es dann doch zu tun.«
Während Max halb panisch, halb beherzt versuchte, den Blick der stolzen Brombeerkönigin auf sich zu lenken, schlenderte Jean zu der Bar, ließ sich ein Glas mit einem Fingerhut voll Pastis einschenken, goss es mit Eiswasser auf. Er war … aufgeregt. Ja, richtig aufgeregt.
Als ob er gleich eine Bühne betreten musste.
Wie war er vor jedem Treffen mit Manon schier außer sich gewesen! Seine bebenden Finger verwandelten die Rasur in ein Gemetzel. Er hatte nie gewusst, was er anziehen sollte, wollte stark und schlank und elegant und cool zugleich aussehen. Das war die Zeit, in der er das Laufen und Gewichteheben begonnen hatte, um für Manon schön zu sein.
Jetzt nahm Jean Perdu einen Schluck Pastis.
»Grazie«, sagte er, einer Intuition folgend.
» Prego, Signor Capitano«, sagte der kleine, runde Schnurrbartträger in singendem Neapolitanisch.
»Zu viel der Ehre. Ich bin kein richtiger Kapitän …«
»Oh, doch. Sind Sie. Cuneo sieht es.«
Aus den Lautsprecherboxen quoll Chartmusik. Die Cortina – das Zeichen für den Partnerwechsel. In dreißig Sekunden würde die Kapelle die nächste Tanda spielen.
Perdu beobachtete, wie sich die Brombeertänzerin erbarmte und sich von einem blassen, aber tapfer den Kopf hochhaltenden Max in die Mitte der Tanzfläche führen ließ. Nach nur wenigen Schritten hielt sie sich wie eine Kaiserin, und irgendetwas schien sie mit Max zu machen, obwohl er bisher nur an ihrem ausgestreckten Arm hing. Er nahm die Ohrenschützer ab. Warf sie beiseite. Er wirkte nun größer, seine Schultern breiter, sein Brustkorb gewölbt wie der eines Toreros.
Sie schoss Perdu einen kurzen Blick aus klaren, hellblauen Augen zu. Der Blick war jung, die Augen waren alt, und ihr Körper sang jenseits aller Zeiten das süße, sehnsüchtige Lied des Tangos. Perdu wusste von der Saudade des Lebens, einer milden, wärmenden Trauer, um alles, um nichts.
Saudade.
Die Sehnsucht nach der Zeit,
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