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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Sommerdämmerung, als er hinter den Vitrolles-Bergen die A7 hinunterkam.
    Rechts die weißen Häuser der Stadt. Links das Blau von Himmel und Wasser. Der Anblick war berauschend.
    Das Meer.
    Wie es funkelte.
    »Hallo Meer«, flüsterte Jean Perdu. Der Anblick zog an ihm. Als hätte das Wasser eine Harpunenangel ausgeworfen, sein Herz durchbohrt und zöge ihn Stück für Stück an kräftigen Seilen zu sich.
    Das Wasser. Der Himmel. Weiße Kondensstreifen im Blau oben, weiße Bugwellenspuren im Blau unten.
    Oh, ja. In dieses entgrenzte Blau wollte er hinein. Die Steilküste entlang. Und weiter, weiter, weiter. Bis er Ruhe fand vor diesem Zittern, das ihn immer noch von innen quälte. War es der Abschied von Lulu? War es der Abschied von der Hoffnung, es schon geschafft zu haben?
    Jean Perdu wollte so lange fahren, bis er sich sicher war. Er wollte einen Ort finden, wo er sich, wie ein verwundetes Tier, zurückziehen konnte.
    Heilen. Ich muss heilen.
    Das hatte er nicht gewusst, als er in Paris losgefahren war.
    Bevor die Gedanken, was er noch alles nicht gewusst hatte, ihn überwältigten, schaltete er das Radio an.
    »Und wenn Sie uns das Ereignis erzählen wollen, das Sie zu dem gemacht hat, der sie Sie sind – welches wäre das? Rufen Sie mich an, und erzählen Sie es mir und all unseren Zuhörern im Departement Var.«
    Eine Telefonnummer wurde durchgegeben, dann spielte die Sprecherin mit der freundlichen Mousse-au-chocolat-Stimme Radiomusik ein. Ein langsames Stück. Rollend wie Wogen. Eine E-Gitarre tupfte hier und da melancholische Seufzer hinein, die Trommeln murmelten wie die Brandung.
    »Albatross« von Fleetwood Mac.
    Ein Lied, bei dem Jean Perdu an Möwenflug im Sonnenuntergang denken musste, an einen Strand fern dieser Welt, an dem Treibholzfeuer flackerten.
    Während Jean in der Sommerwärme über Marseilles Stadtautobahn fuhr und sich fragte, welches sein Ereignis gewesen sein mochte, erzählte im Radio »Margot aus Aubagne« von dem Augenblick, in dem sie begann, sie selbst zu werden.
    »Es war die Geburt meines ersten Kindes, meiner Tochter, sie heißt Fleur. Sechsunddreißig Stunden Wehen. Aber dass Schmerz solch ein Glück hervorbringt, solch einen Frieden … ich war danach wie erlöst. Alles hatte auf einmal einen Sinn, und ich hatte keine Angst mehr zu sterben. Ich hatte Leben geschenkt, und der Schmerz war der Weg zum Glück.«
    Für einen Moment konnte Jean diese Margot aus Aubagne verstehen. Aber er blieb ein Mann. Wie es war, für neun Monate zu zweit im eigenen Körper zu sein, das blieb ihm verborgen. Er würde nie nachfühlen können, wie ein Teil vom Ich für immer in ein Kind überging und verschwand.
    Jetzt fuhr er in Marseilles langen Tunnel ein, der unter den Kathedralen hindurchführte. Trotzdem hatte er noch Radioempfang.
    Als Nächstes meldete sich ein Gil aus Marseille. Er besaß die harte, kantige Aussprache der Arbeiter.
    »Ich wurde ich, als mein Sohn starb«, sagte er stockend, »weil die Trauer mir gezeigt hat, was wichtig ist. Trauer ist so: Sie begleitet uns am Anfang ständig. Man wird von ihr geweckt. Sie geht den ganzen Tag mit dir, überall hin. Sie geht mit dir in den Abend, sie lässt dich im Schlaf nicht in Ruhe. Sie würgt und schüttelt dich. Aber sie macht auch ganz warm. Irgendwann geht sie auch mal fort, aber nie für immer. Sie schaut immer mal wieder herein. Und dann, am Ende … da wusste ich auf einmal, was wichtig ist im Leben. Die Trauer hat es mir verraten. Die Liebe ist wichtig. Das Essen. Und den Rücken gerade zu machen und nicht ja zu sagen, wenn man nein sagen muss.«
    Wieder folgte Musik. Jean ließ Marseille hinter sich.
    Hatte ich gedacht, dass ich der einzige Mensch bin, der trauert? Den es aus der Bahn wirft? Ach, Manon. Mir fehlte jemand, mit dem ich über dich reden konnte.
    Ihm fiel dieser eigentlich banale Auslöser ein, warum er in Paris die Leinen gekappt hatte. Hesses Stufen als Bücherstütze. Dieses zutiefst intime, menschenverstehende Gedicht … als Marketingobjekt.
    Er begriff vage, dass auch er keine Stufe auslassen konnte.
    Aber welche hatte er betreten? War er noch am Ende? War er schon am Anfang? Oder fiel er, verlor den Tritt?
    Er schaltete das Radio aus. Bald sah er die Ausfahrt nach Cassis und fädelte sich ein.
    Er verließ die Autobahn, noch ganz in Gedanken, und wenig später hatte er Cassis erreicht und schlängelte sich dröhnend durch die steilen Straßen. Viele Feriengäste, Plastikbadetiere, Diamantohrringe zum

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