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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Enzyklopädie der Kleinen Gefühle.
    Als Cuneo den Motor startete und gekonnt begann, die Lulu vom Ufer fortzusteuern, da spürte Perdu rein gar nichts.
    Neben sich hörte und sah er Max, aber es war, als ob auch dieser sich, wie das Bücherschiff, von ihm entfernte. Max winkte mit beiden Armen und rief »Ciao« und »Salut«, Perdu dagegen war sich sicher, dass er keinen Arm mehr hatte, mit dem er hätte winken können.
    Er sah seinem Bücherschiff nach, bis es um eine Flussschleife verschwand.
    Er sah ihm immer noch nach, als es längst fort war, und wartete darauf, dass die Taubheit nachließ und er etwas fühlte.
    Als er irgendwann fähig war, sich umzudrehen, stellte er fest, dass Max auf einer Bank saß und ruhig auf ihn wartete.
    »Gehen wir«, sagte Perdu mit spröder, trockener Stimme.
    Sie hoben zum ersten Mal seit über fünf Wochen Geld von ihren Hausbanken ab, die in Avignon Filialen unterhielten – auch wenn das schier Dutzende Telefonate, gefaxte Unterschriftenvergleiche und strenge Passüberprüfung erforderte. Danach mieteten sie sich am TGV-Bahnhof einen milchweißen kleinen Wagen und machten sich auf den Weg zum Luberon.
    Südöstlich von Avignon fuhren sie über die Nebenstrecke der D900. Es waren nur vierundvierzig Kilometer bis Bonnieux.
    Max schaute verzückt aus dem heruntergelassenen Fenster. Links und rechts malten Sonnenblumenfelder, grünsaftige Rebenteppiche und Lavendelbuschreihen das Land vielfarbig. Gelb, dunkelgrün, violett. Darüber spannte sich ein blaugesättigter Himmel mit weißem Kissengewölk.
    In der Ferne sahen sie den kleinen und den großen Luberon am Horizont: ein gewaltiger, langer Gebirgstisch mit einem Hocker rechts daneben.
    Die Sonne schlug nach dem Land. Sie fraß Erde und Fleisch, sie übergoss Felder und Städte mit einer fordernden Helligkeit.
    »Wir brauchen Strohhüte«, stöhnte Max behaglich. »Und Leinenhosen.«
    »Wir brauchen Deos und Sonnenmilch«, korrigierte Perdu trocken.
    Max fühlte sich sichtbar wohl. Er glitt so widerstandslos in diese Umgebung wie ein passendes Puzzleteilchen.
    Anders als Jean. Alles, was er sah, war ihm seltsam fern und fremd. Immer noch fühlte er sich betäubt.
    Auf den grünen Hügeln hockten Dörfer wie Kronen. Heller Sandstein, helle Dachkacheln, die der Hitze trotzten. Majestätische Raubvögel bewachten in stolzen Gleitflügen den Luftraum. Die Straßen waren eng und leer.
    Manon hatte diese Berge, Hügel und farbigen Felder gesehen. Sie hatte die weiche Luft gefühlt, sie hatte die Jahrhundertbäume gekannt, in deren dichten Blätterhäuptern Dutzende Zikaden hockten und sich die Fühler rieben. Ein beständiges Ratschen, das sich für Jean anhörte wie: »Was? Was? Was?«
    Was machst du hier? Was suchst du hier? Was fühlst du hier?
    Nichts.
    Jean sagte dieses Land hier einfach gar nichts.
    Schon passierten sie Ménerbes und seine curryfarbenen Felsen, näherten sich entlang von Weinfeldern und Gehöften dem Calavon-Tal und Bonnieux.
    »Bonnieux stapelt sich zwischen dem großen und dem kleinen Luberon. Wie eine Schichttorte mit fünf Etagen«, hatte Manon Perdu erzählt. »Ganz oben die alte Kirche und die hundertjährigen Zedern und der schönste Friedhof des Luberon. Ganz unten die Weinbauern, die Obstbauern und die Ferienhäuser. Dazwischen die drei Schichten mit den Häusern und den Restaurants. Alles verbunden mit steilen Wegen und Stiegen, deshalb haben alle Mädchen im Dorf schöne, kräftige Waden.« Sie hatte Jean ihre gezeigt. Und er hatte sie geküsst.
    »Schöne Gegend hier, finde ich«, sagte Max.
    Sie rumpelten über Feldpfade, bogen um ein Sonnenblumenfeld, kreuzten einen Weinberg – und mussten feststellen, dass sie nicht wussten, wo sie waren. Jean hielt am Wegesrand.
    »Hier irgendwo muss das doch sein, dieses Le Petit St Jean«, murmelte Max und fixierte die Landkarte.
    Die Zikaden zirpten. Es hörte sich nun eher an wie: »He he he he he.« Sonst war es so still, dass nur noch das leise Ticken des ausgeschalteten Motors die tiefe ländliche Ruhe störte.
    Und dann ein rappelnder Trecker, der sich ihnen zügig näherte. Er kam mit hohem Tempo aus einem der Weinberge. So einen Traktor hatten sie noch nie gesehen: Er war extrem schmal, und seine Reifen waren dünn, aber sehr hoch, so dass er durch die Rebenreihen rasen konnte.
    Am Steuer saß ein junger Mann mit Baseballkappe, Sonnenbrille, abgeschnittenen Jeans und verschossenem weißem Shirt, der sie mit knappem Nicken grüßte, während er

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