Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Dinnerkleid. An einem teuer aussehenden Strandrestaurant lud ein großes Plakat zum »Bali-Büfett«.
Hier gehöre ich nicht hin.
Perdu dachte an Eric Lanson, den Therapeuten aus dem Regierungsviertel von Paris, der so gern Fantasy-Literatur las und versucht hatte, ihm mit einer literarischen Psychoanalyse eine Freude zu machen. Mit Lanson hätte er doch sprechen können, über diese Trauer, diese Angst! Der Therapeut hatte Jean einmal eine Karte aus Bali geschrieben. Dort war der Tod der Höhepunkt des Lebens. Er wurde gefeiert, mit Tanz, Glockenschalenkonzerten und Meerestierbüfett. Jean musste daran denken, was Max zu so einem Fest sagen würde. Sicher etwas Despektierliches. Etwas Fröhliches.
Max hatte Jean zum Abschied zwei Dinge mitgeteilt. Zum einen, dass man die Toten ansehen, verbrennen und ihre Asche begraben muss – und danach beginnen, ihre Geschichte zu erzählen.
»Wer über die Toten schweigt, dem lassen sie keine Ruhe.«
Zum anderen, dass er die Gegend um Bonnieux wirklich schön fände und im Taubenschlag bleiben und schreiben würde.
Jean Perdu ahnte, dass da auch ein gewisser roter Weinbergtraktor eine Rolle spielte.
Aber wie war das? Man muss die Geschichte der Toten erzählen?
Perdu räusperte sich und sagte laut in die Einsamkeit des Wagens hinein: »Sie sprach, wie die Natur ist. Manon zeigte ihre Gefühle, immer. Sie liebte Tango. Sie soff das Leben wie Champagner und begegnete ihm genauso: Sie wusste immer, dass das Leben etwas Besonderes ist.«
Er spürte tiefen Kummer in sich aufsteigen.
Er hatte in den letzten zwei Wochen mehr geweint als in zwanzig Jahren zuvor. Aber die Tränen waren alle für Manon, jede einzelne, und er schämte sich nicht mehr.
Rasch hatte Perdu die steilen Straßen von Cassis durchquert. Er ließ die Cap Canaille und ihre spektakulären roten Kliffs rechts liegen und fuhr über Anhöhen und durch Pinienwälder weiter, der alten, gewundenen Küstenstraße folgend, die Marseille mit Cannes verband. Dörfer gingen ineinander über, Häuserreihen wuchsen über Stadtgrenzen zusammen, Palmen und Pinien, Blumen und Felsen wechselten sich ab. La Ciotat. Le Liouquet. Und dann Les Lecques.
Als er einen Parkplatz an einem Strandzugang entdeckte, scherte Jean spontan aus dem ruhigen Fluss der Wagenkolonne aus. Er hatte Hunger.
Das Kleinstädtchen aus verwitterten alten Villen und neuen, pragmatischen Hotelanlagen war am breiten Ufersaum bevölkert mit Familien. Sie schlenderten am Strand und der Promenade entlang, aßen in den Restaurants und Bistros, die ihre Fensterfronten zur Wasserseite hin weit geöffnet hatten.
In der Brandung spielten einige tiefgebräunte Jungs Frisbee, und draußen, hinter der Kette gelber Markierungsbojen und dem Leuchtturm, wippte ein Rudel weißer Ein-Mann-Schulsegelboote auf und ab.
Jean fand einen Platz am Tresen des Strandbistros L’équateur, zwei Meter vom Sand entfernt, zehn Meter von der sanften Brandung. Blaue, große Sonnenschirme bewegten sich im Wind über blanken Tischen, dicht gestellt, wie überall in der Provence zur Ferienzeit, wenn die Gäste gestapelt wurden wie die eingelegten Sardinen. Am Tresen besaß Perdu einen Logenplatz.
Während er aus einem hohen, schwarzen Topf dampfend heiße Miesmuscheln mit reichlich Kräutersahnesud aß, dazu Wasser trank und ein Glas herben weißen Bandol -Wein, ließ er das Meer nicht aus den Augen.
Es war hellblau im späten Sonnenlicht. Zum Sonnenuntergang entschied es sich für dunkles Türkis. Der Sand färbte sich von hellblond zu dunklem Flachs und dann schieferfarben. Die Frauen, die vorübergingen, wurden aufgeregter, die Röcke kürzer, das Lachen vorfreudiger. An der Hafenmole war eine Freiluftdisco aufgebaut, dorthin strebten die Dreier- und Vierergruppen in dünnen Kleidchen oder kurzen Jeans und Shirts, die ihnen über die gebräunten, glänzenden Schultern rutschten.
Perdu sah den jungen Frauen und Männern nach. Er erkannte in ihrer Art, schnell und leicht vorgebeugt zu gehen, die unbändige Lust der Jugend, etwas zu erleben. Schneller dort zu sein, wo es Abenteuer zu geben versprach. Erotische Abenteuer! Lachen, Freiheit, Tanz in den Morgen, barfuß im kühlen Strandsand, Hitze im Schoß. Und Küsse, die für immer unvergessen blieben.
Saint-Cyr und Les Lecques verwandelten sich bei Sonnenuntergang in eine freundliche Partymeile.
Sommerleben im Süden. Das waren die nachgeholten Stunden vom heißen Nachmittag, in denen das Blut so müde und dick in den Adern
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