Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
zwei eiskalte Orangina in bauchigen Fläschchen und, als Willkommensgruß, einen gekühlten bong veng, wie sie den bon vin provenzalisch aussprach, einen hellgelb schimmernden Wein.
»Das ist ein hiesiger bong veng, ein Luc Basset«, plauderte die Bonnet, »das Gut ist aus dem siebzehnten Jahrhundert, es ist gleich auf der anderen Seite der D36. Von hier fünfzehn Minuten zu Fuß. Der Manon XVII hat es dieses Jahr zu einer Goldmedaille gebracht.«
»Ein bitte was? Ein Manon?«, fragte Perdu betroffen.
Max übernahm es geistesgegenwärtig, sich bei ihrer irritierten Wirtin überschwenglich zu bedanken.
Dann betrachtete er das Weinetikett, während sich Brigitte Bonnet durch die prächtigen Beete entfernte, hier und da herumzupfend. Über den Schriftzug »Manon« war die zarte Tuschezeichnung eines Gesichts gedruckt. Weich umrahmt von Locken, ein halbes Lächeln, der intensive Blick aus großen Augen auf den Betrachter gerichtet.
»Das ist deine Manon?«, fragte Max mit Bewunderung.
Erst nickte Jean. Dann schüttelte er der Kopf.
Nein, natürlich war sie es nicht. Schon gar nicht seine Manon.
Seine Manon war tot und schön und nur in Träumen lebendig.
Und jetzt schaute sie ihn ohne Vorwarnung an.
Er nahm Max die Flasche aus der Hand. Zart strich Jean mit dem Finger über die Zeichnung von Manons Gesicht. Ihr Haar. Ihre Wange. Ihr Kinn. Mund. Hals. Dort, überall, hatte er sie einst berührt, aber …
Und jetzt erst kam das Zittern.
Es begann in seinen Knien, setzte sich fort, überzog Bauch und Brust von innen mit einem Knistern und Beben, bevor es in seine Arme und Finger wanderte und sich in seinen Lippen und Augenlidern festsetzte.
Gleich würde sein Kreislauf nachgeben.
Seine Stimme klang flach, als er flüsterte: »Sie liebte das Geräusch, das Aprikosen machen, wenn sie frisch gepflückt werden. Man muss sie zart zwischen Daumen und zwei Finger nehmen, leicht drehen, und es macht ›knck‹. Ihre Katze hieß Miau. Miau schlief im Winter auf ihrem Kopf, wie ein Hut. Manons Vater hatte Manon die Zehen vererbt, sagte sie, Zehen mit Taille. Manon liebte ihren Vater sehr. Und sie liebte Crêpes mit Banon -Käse und Lavendelhonig. Und wenn sie schlief, Max, dann lachte sie manchmal im Traum. Sie war verheiratet mit Luc, während ich nur ihr Liebhaber war. Luc Basset, der Vigneron. «
Jean sah hoch. Mit zitternden Händen stellte er den Wein auf den Mosaiktisch.
Am liebsten hätte er ihn gegen die Mauer geworfen – wenn da nicht die irrationale Sorge gewesen wäre, Manons Gesicht zu zerschneiden.
Jean konnte es kaum aushalten. Er konnte sich kaum ertragen! Er befand sich an einem der schönsten Orte der Erde. Mit einem Freund, der ihm Sohn und Vertrauter geworden war. Er hatte Brücken hinter sich abgebrochen und war den Weg nach Süden gegangen, über Wasser und Tränen.
Nur um festzustellen, dass er immer noch nicht bereit war.
Im Kopf stand er doch immer noch im Flur seiner Wohnung, vor einer Bücherwand, die ihn einmauerte.
Hatte er erwartet, dass er nur hierherkommen musste und sich alles auf wundersame Weise auflöste? Dass er seine Qual auf den Flüssen zurücklassen konnte, seine ungeweinten Tränen eintauschen gegen die Absolution einer toten Frau? Dass er weit genug gegangen war, um Erlösung zu verdienen?
Ja, das hatte er.
Aber so einfach war es nicht.
So einfach ist es nie.
Mit einem zornigen Griff drehte er die Flasche rigoros um. Manon sollte ihn nicht mehr so ansehen.
Nein. So konnte er ihr nicht gegenübertreten. Nicht als dieser Nichtmensch, dessen Herz heimatlos umherlichterte, aus Angst, jemals wieder zu lieben und das Liebste zu verlieren.
Als Max seine Hand in Jeans schob, drückte er sie fest. Ganz fest.
36
D ie seidige Luft des Südens strömte durch den Wagen. Jean hatte alle Fenster des altersschwachen Renault 5 heruntergekurbelt. Gérard Bonnet, Brigittes Mann, hatte ihm das Auto geschenkt, den Leihwagen waren sie in Apt losgeworden
Die rechte Tür war blau, die linke rot, der Rest der Rappelkiste bestand aus Beige-Rost. Mit diesem Wagen und einer kleinen Reisetasche hatte sich Perdu auf den Weg gemacht. Über Bonnieux war er nach Lourmarin und von dort über Pertuis nach Aix gefahren. Und von dort aus auf dem schnellsten Weg nach Süden und ans Meer.
Da unten, vor ihm, strotzte Marseille stolz in seiner Bucht. Die große Stadt, in der sich Afrika, Europa und Asien küssten und bekriegten. Als funkelnder, atmender Organismus lag die Hafenstadt in der
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