Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
gut«, sagte Syl. »Außerdem fängst du viel mehr Fische, wenn du nicht abgelenkt bist.«
Jon kicherte und Matt machte ein Gesicht, als wüsste er nicht, wen er zuerst umbringen sollte.
»Morgen früh brechen wir auf«, sagte er. »Und kommen Mittwochabend zurück.«
»Nein«, sagte Mom. »Ihr bleibt bis Freitag. Jons Algebra-Kenntnisse sind ohnehin nicht mehr zu retten, und je länger ihr bleibt, desto mehr Fisch bringt ihr mit nach Hause.«
»Mom«, sagte Matt, »könnte ich das kurz mit dir allein besprechen?«
»Da gibt es nichts zu besprechen«, sagte Mom. »Du und Jon, ihr übernehmt den Jäger-und-Sammler-Part. Syl und Miranda fahren in der Gegend herum, um nach Packungen mit Reis zu suchen. Und ich bleib daheim und mach mir Sorgen um euch alle. Das ist eine angemessene Arbeitsteilung.«
Syl fing an zu lachen, aber als keiner von uns einstimmte, hörte sie wieder auf.
»Komm schon, Matt«, sagte Jon. »Bevor wir wieder mit dem Holzhacken anfangen, sollten wir noch möglichst viele Fische fangen.«
Einen Moment lang tat Matt mir leid. In einer normalen Welt müsste er seine Frau nicht vier Tage allein lassen, um mit seinem kleinen Bruder angeln zu gehen. Andererseits hätte er in einer normalen Welt auch bestimmt kein Mädchen geheiratet, das er erst seit einem Tag kannte. Nehme ich jedenfalls an.
»Morgen früh hin«, sagte Matt. »Am Freitag zurück. Und danach werden Syl und ich nie wieder voneinander getrennt. Ist das klar?«
»Hat doch auch niemand verlangt«, sagte Mom. Diesmal war Syl so klug, nicht zu lachen.
Morgen fahren Matt und Jon also wieder los. Wer weiß – vielleicht kommt ja dann Jon mit einer Frau zurück.
16. Mai
Gleich nach dem Frühstück sind Syl und ich auf Häuserjagd gegangen. Ich schätze, sie war froh, mal für eine Weile von Mom wegzukommen. Ich war es jedenfalls.
»Matt hat erzählt, dass du Tagebuch schreibst«, sagte Syl, während wir die Straße hinunterfuhren.
»Stimmt«, sagte ich. »Aber nur für mich. Das liest sonst keiner.«
»Ich weiß«, sagte Syl. »Trotzdem ist es eine komische Vorstellung, dass jemand über mich schreibt.«
»Hast du denn noch nie Tagebuch geführt?«, fragte ich.
»Doch, einmal, für die Schule«, sagte sie. »Aber da hab ich mir Sachen ausgedacht.«
»Warum?«, fragte ich. »War irgendwas passiert, das keiner erfahren sollte?«
»Nein, nichts«, sagte Syl. »Bei uns ist nie was passiert. Aber ich hatte immer das Gefühl, wenn ich meine Gedanken aufschreibe, gehören sie mir nicht mehr.«
So hatte ich das noch nie gesehen, und ich glaube, das wollte ich auch nicht. Mom, Matt und Jon haben meine Privatsphäre immer respektiert, jedenfalls die meiner Tagebücher. Eine andere haben wir sowieso nicht mehr. Es fühlt sich komisch an, dass Jon noch bei uns im Wintergarten schläft und Matt nicht mehr. Weniger eng, aber auch irgendwie intimer.
»Ich staune immer wieder über deine Haare«, sagte ich. »Wie lang die sind. Und wie schön.«
»Haare sind ein wichtiges Kapital«, sagte sie. »Du solltest deine auch wachsen lassen.«
»Irgendwann vielleicht«, sagte ich. Wenn das Wasser nicht mehr grau ist.
Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. Ich wartete darauf, dass Syl mich ausfragen würde, so, wie sie es bei Jon getan hat te. Aber ich war wohl nicht so interessant wie Baseball. War auch egal. Schon beim ersten Haus merkte ich, wie gut Syl in so was war.
Mom hatte darauf bestanden, dass wir immer zusammenblieben, aber dank Syl war trotzdem keine Sekunde verschwendet. Wir durchsuchten bestimmt ein Dutzend Häuser, von oben bis unten, Zentimeter für Zentimeter, Garage und Schuppen eingeschlossen. Wir fanden nicht sehr viel, und wenn, dann feierten wir das nicht groß. Kein Triumphgeheul wegen einer halben Rolle Toilettenpapier.
Immerhin entdeckten wir zwei elektrische Heizgeräte. Jede von uns lud sich eins aufs Rad. Wenn es Strom gibt, können wir jetzt auch Küche und Esszimmer heizen.
Gleich nach unserer Rückkehr ging ich rauf in mein Zimmer und versteckte alle meine Tagebücher ganz hinten in meiner Ankleidekammer. Das sind meine Gedanken und das sollen sie auch bleiben.
17. Mai
Hätte Syl doch bloß nichts über mein Tagebuch gesagt. Ich kann Matt keinen Vorwurf machen, dass er ihr davon erzählt hat. Ich wünschte trotzdem, er hätte es nicht getan.
Ich schreibe diesen Eintrag in der Küche, mit einem der Lampenstifte, die Jon mir mitgebracht hat. Mom liegt im Wintergarten und schläft. Das hat mich früher nie
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