Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
gestört. Ich habe monatelang Tagebuch geschrieben, während sie, Matt und Jon mit im Raum waren. Doch obwohl ich weiß, dass Syl bei Matt im Zimmer ist und wahrscheinlich auch schläft, habe ich ständig das Gefühl, mir guckt jemand über die Schulter.
Letzten Sommer waren Dad und Lisa hier, auf ihrem Weg nach Westen. Da waren wir zu sechst im Haus, aber ich habe mich weniger beobachtet gefühlt als jetzt, wo wir nur zu dritt sind.
Sonst wollte ich eigentlich gar nichts erzählen, nur noch mal sagen, dass diese Tagebücher mir gehören und nur für meine Augen bestimmt sind.
18. Mai
Heute ist es genau ein Jahr her, dass der Asteroid auf dem Mond eingeschlagen ist.
Vor einem Jahr war ich sechzehn und in der zehnten Klasse. Matt war im ersten Semester an der Uni in Cornell, Jon in der Mittelstufe. Dad und Lisa haben mich damals gefragt, ob ich die Patentante ihres Babys werden will. Mom wollte gerade ein neues Buch anfangen.
Ich weiß, dass ich seit letztem Jahr auch vieles hinzugewonnen habe, aber heute Morgen beim Aufwachen fiel mir nur all das ein, was ich verloren habe. Nein, falsch. Nicht ›all das, was‹, sondern ›all jene, die‹ ich verloren habe. ›All das‹ ist eigentlich gar nicht so wichtig. Mit der Zeit gewöhnt man sich an Hunger, Kälte und Dunkelheit.
Aber an den Verlust eines Menschen kann man sich nicht gewöhnen. Oder wenn doch, dann will ich es jedenfalls nicht. So viele Menschen, die mir wichtig waren, sind seit letztem Jahr aus meinem Leben verschwunden. Einige sind gestorben, andere fortgegangen. Was kaum noch einen Unterschied macht. Weg ist weg.
Ich lag auf meiner Matratze im Wintergarten, dachte an diesen ersten Jahrestag und überlegte, ob ich ihn Mom gegenüber erwähnen sollte. Durch mein Tagebuch weiß ich immer, welches Datum wir haben. Aber Kalender sind, wie die meisten anderen Dinge, seit letztem Jahr komplett verschwunden. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dieser Jahrestag wäre so was wie der Leichenberg – etwas, das man lieber für sich behält.
Eines der Dinge, die ich seit letztem Jahr hinzugewonnen habe, ist eine Schwägerin. Und heute Morgen beim Frühstück (eine Dose Süßkartoffeln für drei, nicht so ein Frühstück wie letztes Jahr) brachte Syl das Thema auf.
»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte sie.
»Wieso denn?«, fragte Mom. »Ach so, ihr beide habt vor einer Woche geheiratet, stimmt’s? Na ja, morgen kommt er ja zurück, da könnt ihr das feiern.«
»Nein, Mom«, sagte ich. »Heute vor einem Jahr ist diese Sache mit dem Mond passiert.«
»Ein Jahr ist das schon her?«, fragte Mom. »Wie doch die Zeit vergeht, wenn man sich so prachtvoll amüsiert.«
»Der 18. Mai«, sagte Syl. »Ich hab jetzt schon seit einer Weile aufs Datum geachtet. Ich fand, an diesem Jahrestag müsste ich irgendwas Besonderes tun.«
»Inwiefern ›besonders‹?«, fragte ich. »Immerhin hast du letzte Woche geheiratet. Viel besonderer geht’s ja wohl kaum.«
»Irgendwas Globaleres«, sagte Syl. »Ein Opfer an die Göttin des Mondes oder so.«
»Aber nicht meinen Erstgeborenen«, sagte Mom. »Der steht nicht zur Verfügung.«
Syl lachte. »Ich hab nicht die Absicht, Matt zu opfern. Aber irgendwas muss es doch geben, worauf wir verzichten könnten. Etwas Wichtiges, das Diana annehmen kann.«
»Diana ist die Göttin der Jagd«, sagte Mom. Ich bin jedes Mal überrascht, was sie für Sachen weiß.
»Und die Göttin des Mondes«, ergänzte Syl zum Beweis, dass sie mindestens genauso viel unnützes Wissen angehäuft hatte wie Mom. »Apollo, der Sonnengott, ist ihr Bruder.«
»Vielleicht sollten wir lieber dem was opfern«, schlug ich vor. »Sonnenlicht brauchen wir doch viel dringender als Mondschein.«
Syl schüttelte den Kopf. »Mit dem Mond hat alles angefangen. Bei dem sollten wir auch bleiben.«
Ich sah mich im Wintergarten um. Horton lag am Ofen und schlief. In den letzten Wochen ist er ziemlich dünn geworden, aber ich würde ihn trotzdem keiner Göttin opfern.
»Wie wär’s mit Jons Baseballkarten-Sammlung?«, fragte ich. »Vielleicht weiß Diana eine Mickey-Mantle-Karte zu schätzen?«
»Nein«, sagte Syl. »Das Opfer muss von uns selber kommen. Wir sind Dianas Dienerinnen.«
»Ich weiß was«, sagte ich. »Wir opfern ihr ein paar Fische.«
»Nein«, sagte Mom. »Die brauchen wir alle für uns. Soll Diana doch selbst zusehen, wo sie was zu essen herkriegt.«
Syl sah uns an. »Was ist euch das Liebste?«, fragte sie.
»Meine Kinder«, sagte Mom. »Und
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