Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
nach ihnen dieses Haus. Aber das alles ist absolut tabu für Diana, Apollo oder sonst irgendeinen dahergelaufenen Gott.«
»Meine Tagebücher«, sagte ich.
»Nein«, sagte Mom. »Die sind auch tabu.«
Ich hatte dazu gemischte Gefühle. Ich erinnerte mich, dass Mrs Nesbitt kurz vor ihrem Tod all ihre Briefe verbrannt hatte. Ich habe zwar nicht die Absicht, in nächster Zeit zu sterben, aber wenn ich meine Tagebücher verbrennen würde, müsste ich mir keine Sorgen mehr machen, dass Syl sie womöglich liest.
»Mir wär’s egal«, sagte ich.
»Mir nicht«, sagte Mom. »Deine Tagebücher sind der einzige Beweis, dass es diese Familie jemals gab. Sie sind das einzige Bindeglied zwischen unserer Vergangenheit und unserer Zukunft. Ich werde nicht zulassen, dass du sie vernichtest. Jedenfalls nicht aus einer Laune heraus.«
»Aber ich hab sonst nichts«, sagte ich und dachte, wie armselig mein Leben doch war. Ich besaß nichts, was man einer Göttin opfern konnte, von deren Existenz ich bis vor zehn Minuten noch nichts gewusst hatte. »Oder doch: meine Pokale vom Eislaufen. Wäre das was für Diana?«
»Aber nur einer«, sagte Mom. »Der für den dritten Platz. Der so protzig aussah.«
Ich rannte rauf in mein Zimmer, um den protzigen Dritter-Platz-Pokal zu holen. Ich drückte ihn einen Moment lang an mich und dachte an diesen Wettkampf zurück. Ich war zweimal gestürzt. Wäre ich nur einmal hingefallen, wäre ich vielleicht Zweite geworden. Aber das Mädchen, das gewonnen hatte, war richtig gut gewesen. An die wäre ich nie herangekommen.
Ich war damals zehn gewesen. Mom und Dad hatten beide zugeschaut. Und sogar Dad, der uns sonst immer gern zu noch besseren Leistungen anspornte, musste erkennen, wie groß der Abstand zwischen mir und dem Mädchen, das gewonnen hatte, war. Auf der Heimfahrt hatte er dann auch nicht davon gesprochen, ich müsse halt noch mehr und noch härter trainieren. Stattdessen hatte er nur gesagt, wie stolz er auf mich war, weil ich nach beiden Stürzen einfach wieder aufgestanden und weitergelaufen war und trotzdem noch eine Medaille geholt hatte.
Ich hielt den Pokal weiter an mich gepresst und dachte an unser Leben, als Mom und Dad noch zusammen waren und ich mir nichts Schlimmeres vorstellen konnte, als bei einem Wettkampf zu stürzen. Wie kindisch musste ich damals gewesen sein, dass ich mich tatsächlich darüber ärgern konnte, wegen der beiden Stürze Silber verpasst zu haben.
Ich ging wieder runter in den Wintergarten, wo Mom und Syl sich gerade eine passende Zeremonie ausdachten. »Ich hätte nie gedacht, dass du bei so einer Sache mitmachst«, sagte ich zu Mom.
»Warum nicht?«, fragte Mom. »Im College habe ich noch ganz andere Dummheiten ausgeheckt. Ich habe beschlossen, meinen ersten Buchvertrag zu opfern. Bleibt hier, ich geh ihn kurz suchen.«
Ich stellte den Pokal auf dem Boden ab und setzte mich auf meine Matratze.
»Deine Mutter ist echt klasse«, sagte Syl. »Ich dachte, sie würde mir bestimmt Vorhaltungen machen. Heidnische Praktiken und so.«
Ich zuckte die Achseln. »Ich glaub nicht, dass Mom so richtig an irgendwas glaubt. Und wir erwarten auch nicht, dass der Mond jetzt an seinen alten Platz zurückflutscht, bloß weil wir ihm einen protzigen Pokal geopfert haben.«
»Aber der ist doch schön«, sagte Syl, kam zu mir rüber und nahm ihn in die Hand. »Auf den warst du sicher stolz, oder?«
»Nicht so richtig«, sagte ich. »Moms Buchvertrag ist ein viel größeres Opfer. Das erste Buch, das ist so was wie das erste Kind, weißt du?«
»Ich muss auch irgendwas opfern«, sagte Syl.
»Du hast nicht allzu viel dabeigehabt«, sagte ich.
Syl lachte. »Ich reise mit leichtem Gepäck.«
»Das wird Diana bestimmt verstehen«, sagte ich. »Außerdem wird sie von meinem Pokal so geblendet sein, dass sie eh nichts anderes mehr sieht.«
»Meinen Vertrag sollte sie aber schon sehen«, sagte Mom, die gerade wieder hereinkam. »Oder wenigstens zu würdigen wissen, wie schnell ich ihn gefunden habe. Du wirst es nicht glauben, Syl, aber ich war früher ein sehr ordentlicher Mensch.«
»Ich weiß, was ich opfern kann«, sagte Syl und ihre Miene hellte sich auf. »Meine Haare.«
»Nein!«, rief ich. »Die darfst du nicht abschneiden. Die sind doch dein Kapital.«
»Das brauch ich jetzt nicht mehr«, sagte Syl. »Matt liebt doch mich und nicht meine Haare. Jedenfalls nicht nur. Wo habt ihr eine Schere?«
»Meinst du wirklich?«, fragte Mom. »Dein Haar ist so
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