Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
schon am ganzen Körper, als Jon mich schließlich holen kam. Er brachte mir Jacke und Schirm.
»Mom sagt, es tut ihr leid«, sagte er.
Natürlich tat es ihr leid. Matt tat es sicher auch schon leid. Uns allen tat es leid. Das können wir offenbar am besten: Dinge tun, die wir hinterher bereuen.
20. Mai
Gestern Abend hat Jon die Bretter vor dem Esszimmerfenster abgenommen und seine Matratze rübergebracht. Jetzt hat er ein Zimmer für sich, obwohl man natürlich vom Wintergarten aus reingucken kann.
Mom hat mich heute Morgen gefragt, ob wir auch für mich die Bretter vorm Küchenfenster lösen sollen. Sie würde weiterhin im Wintergarten schlafen und nachts nach dem Ofen sehen.
Ich überlegte kurz, aber eigentlich will ich bloß in mein eigenes Zimmer zurück. Seit ich neulich oben war, um den Pokal zu holen, sehne ich mich wieder nach meinem eigenen Bett, meiner Kommode, meinen Fenstern.
Das Esszimmer hat zwei Türen: eine ins Wohnzimmer und eine in die Küche. Im Wohnzimmer sind wir aber nie, weil da die ganzen Esszimmermöbel drinstehen. Und ins Esszimmer geht eigentlich auch nie jemand, außer Jon natürlich.
Aber um ins Badezimmer, in den Wintergarten oder in den Keller zu kommen, muss man immer durch die Küche. Außerdem ist es halt die Küche. Der Raum, in dem man Vorräte, Geschirr und Besteck aufbewahrt.
Im Esszimmer kann man sich die Privatsphäre wenigstens noch einbilden. In der Küche hat man überhaupt keine mehr.
Also bleibe ich bei Mom im Wintergarten, zumindest vorläufig. Wir haben unsere Matratzen an die Wand geschoben und die Wäscheleine in die Küche verbannt, damit der Wintergarten wieder mehr wie ein Wohnraum und weniger wie ein Schlafsaal aussieht.
Seit Matt und Jon zurück sind, hat es immer mal wieder geregnet. Ich erwarte ja nicht gleich, dass die Sonne rauskommt. Aber es wäre schon schön, wenn alles mal wieder trocknen würde.
21. Mai
Das hat uns gerade noch gefehlt: ein Kälteeinbruch. Heute Nacht hat sich der Regen in Schnee verwandelt. Jetzt liegen draußen wieder ein paar frische Zentimeter.
»Manchmal schneit es halt im Frühling«, sagte Mom. »Der schmilzt bestimmt bald wieder.«
Matt und Syl haben den Schnee zum Vorwand genommen, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Hin und wieder waren spitze Schreie zu hören.
Jon hat seine Baseballkarten neu geordnet. Ein Glück, dass wir Mickey Mantle nicht geopfert haben.
Ich habe in den Garten hinausgeschaut und an den Leichenberg gedacht, der jetzt wieder von Schnee bedeckt ist.
22. Mai
Als Matt und Syl heute aus der Stadt zurückkamen, war Matt schon viel besserer Laune. Im Schnee zu fahren, war bestimmt nicht leicht gewesen, hatte ihn aber nicht gestört.
»Der Bürgermeister war da und hat die Trauung vollzogen«, sagte er und wedelte mit der Heiratsurkunde. »Vor dem Staat Pennsylvania sind Syl und ich jetzt verheiratet.«
»Ihr hättet mitkommen sollen«, sagte Syl. »Alle drei.«
»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Mom.
»Und seht mal hier«, sagte Matt. »Fünf Lebensmitteltüten!«
Ich habe hingesehen, und zwar ganz genau. Sogar noch genauer als Mom. Und ich habe die Lebensmittel dann auch weggeräumt. Ein paar Dosen mehr als letzte Woche waren es schon. Aber ich glaube trotzdem, dass Mr Danworth uns einfach die übliche Menge gegeben hat – nur auf fünf Tüten verteilt statt auf vier.
Seit der Fisch geputzt und eingesalzen ist und in der Garage vor sich hin stinkt, hat Mom beschlossen, dass es nur noch zweimal pro Woche welchen gibt, und dann auch immer nur zwei Alsen für uns fünf. Ich bin froh darüber, auch wenn ich weiß, dass sie das nur deshalb macht, weil sie Angst davor hat, was passiert, wenn der Fisch zur Neige geht und wir keine Dosen mehr aus der Stadt kriegen.
Was soll dann aus uns werden? Wo werden wir hingehen? Ob Matt und Syl sich dann allein auf den Weg machen und ich ihn nie mehr wiedersehe?
Ich weiß, dass ich mich für ihn freuen sollte. Aber ich glaube, der Gedanke, Matt für immer zu verlieren, macht mir am meisten Angst von allem.
23. Mai
»Hat Horton letzte Woche überhaupt etwas gefressen?«, fragte Jon mich. »Während ich weg war?«
»Ein bisschen«, antwortete ich.
»Er frisst nicht gerade viel«, stellte Jon fest.
»Im Frühling fressen Katzen immer ein bisschen weniger«, sagte ich. »Um ihren Winterspeck loszuwerden.«
»Stimmt, aber er ist doch eh schon so dünn«, sagte Jon.
Da hat er natürlich Recht. Aber wir können es nicht ändern. Wenn Horton
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