Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
Matt senkte die Stimme, so dass ich ihn kaum noch verstehen konnte. »Vielleicht hättest du erlauben sollen, dass Miranda mit ihnen geht. Vielleicht wäre das doch das Beste gewesen.«
Es war, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Dad mich mitnehmen wollte, als er und Lisa letzten Sommer von hier aufgebrochen sind.
»Würdest du ihr das wirklich wünschen?«, fragte Mom. »Ein Evak-Lager nach dem anderen? Ein Leben wie das von Syl?«
»Lass Syl aus dem Spiel«, sagte Matt. »Sie hatte keine Eltern, die sie beschützen konnten. Dad hätte auf Miranda aufgepasst. Sicher wäre das nicht leicht für sie gewesen, aber das war es hier schließlich auch nicht. Und wir wussten doch auch, jeder von uns, dass unsere Vorräte, egal, wie groß sie sind, um einiges länger gehalten hätten, wenn einer weniger davon hätte satt werden müssen.«
»Ich konnte sie nicht gehen lassen«, sagte Mom. »Ich könnte keinen von euch da rausschicken und mit der Angst leben, dass ich euch vielleicht nie mehr wiedersehe. Ich weiß nicht, wie die Eltern von Alex und Julie das fertiggebracht haben.«
»Ich nehm an, die beiden haben gar keine Eltern mehr«, sagte Matt. »Genau wie Syl.«
Mom seufzte. »Was sind das nur für Zeiten? Aber wir haben sie zusammen durchgestanden und so soll es auch bleiben. Hal denkt sicher auch schon über eine Lösung nach. In der Zwischenzeit müssen wir eben irgendwie zurechtkommen. Lisa soll jedenfalls nicht hungern, solange sie noch stillt. Das dürfen wir nicht zulassen.«
Ich hörte, wie Syl die Treppe heraufkam. »Laura?«, fragte sie. »Mir ist eingefallen, dass ich neulich ein Flanelllaken im Wäscheschrank gesehen habe. Könnten wir das nicht zerschneiden, um Windeln draus zu machen?«
»Gute Idee«, sagte Mom.
»Komm mal kurz rein«, sagte Matt. »Mom und ich haben gerade was besprochen, und ich möchte, dass du Bescheid weißt.«
Ich nutzte die Gelegenheit, mich aus meinem Zimmer zu schleichen und nach unten zu gehen, bevor jemand merkte, dass ich gelauscht hatte. Mein Timing war perfekt, denn als ich am Wohnzimmer vorbeikam, hörte ich, wie Dad und Lisa gerade miteinander stritten.
»Wir dürfen Julie nicht weglassen«, sagte Lisa. »Wer weiß, wo Alex sie hinbringt und was dort aus ihr wird.«
»Wir wissen ganz genau, wo er sie hinbringt«, sagte Dad. »Alex hat schließlich kein Geheimnis daraus gemacht.«
»Ins Waisenhaus schicken«, sagte Lisa. »Damit er nach Ohio gehen kann.«
»Das ist kein Waisenhaus«, sagte Dad, »sondern ein Kloster, das letzten Sommer Mädchen wie Julie aufgenommen hat. Es ist ja nicht so, als wollte er zum Zirkus gehen. Er ist der Meinung, dass Julie im Kloster besser aufgehoben ist als auf der Straße.«
»Aber bei uns wäre sie doch in Sicherheit!«, rief Lisa. »Hal, ich kann ohne Julie nicht mehr leben. Sie ist die Einzige, die versteht, was ich durchgemacht habe.«
»Ich verstehe das auch«, sagte Dad. »Wenn du mir doch bloß glauben würdest, Lisa.«
»Tust du nicht«, sagte Lisa. »Du sagst das nur so. Vielleicht glaubst du’s sogar selbst, aber es stimmt nicht. Du warst dir von Anfang an sicher, dass deine Mutter tot ist. Schon auf unserem Weg nach Westen hast du nicht mehr daran geglaubt, sie noch mal wiederzusehen. Aber bei mir war die ganze Familie da draußen – meine Eltern, meine Schwestern. Und jetzt werde ich niemals erfahren, ob sie noch leben oder tot sind. Mir bleibt nur der Glaube daran, dass Gott uns irgendwann wieder vereinen wird. Julie kennt dieses Gefühl, diesen unbezähmbaren Drang, seine Familie wiederzusehen. Und auch die schreckliche Angst, dass das nie mehr geschehen wird. Sie ist die Einzige, mit der ich darüber reden kann.«
»Du kannst genauso gut mit mir darüber sprechen«, sagte Dad. »Tust du doch gerade.«
»Aber es ist völlig widersinnig, dass Julie bei diesen Nonnen leben soll, die sie überhaupt nicht kennt«, sagte Lisa. »Wenn Alex sie bei uns lassen würde, könnte er trotzdem tun und lassen, was er will. Er müsste sich keine Sorgen um sie machen. Bitte, Hal, sprich noch mal mit ihm, versuch ihn zu überzeugen. Diese Nonnen sind sicher ganz wunderbare Menschen, aber Julie kennt sie nun mal nicht. Uns kennt sie. Ich hab schon so viel verloren, Hal. Gott hat mir Julie zu Hilfe gesandt. Er kann nicht wollen, dass ich sie wieder verliere.«
»Na, macht das Spaß?«
Ich fuhr herum. Alex stand hinter mir. Wer weiß, wie lange er mich schon
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