Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
das nicht stimmte. An ihren Augen, wissen Sie. Nicht einmal in ihrer Todesstunde haben sie diesen Ausdruck verloren.«
»Vielleicht sollten Sie mit uns kommen, Schwester Paulina«, sagte mein Vater. »In unser Haus in Pennsylvania.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Schwester Paulina. »Aber Grace hat mir die Verantwortung übertragen, solange sie unterwegs ist. Ich kann hier unmöglich weg.«
»Und wenn sie nicht zurückkommt?«, sagte Dad.
»Oh, das wird sie«, sagte Schwester Paulina. »Das sind doch erst ein paar Wochen und heutzutage dauert alles viel länger. Vielleicht ist Marie ja auch krank geworden? Es hat hier so viel Krankheit gegeben. Wir haben den Leuten in der Stadt geholfen, so gut wir konnten, aber es sind doch so viele gestorben. Inzwischen sind wohl alle fortgegangen – also die, die überlebt haben. Zu Anfang haben uns die Leute immer mit Lebensmitteln und Holz versorgt, aber jetzt ist schon lange niemand mehr gekommen. Wir hatten gehofft, zu Ostern würde jemand an uns denken, aber dann waren wir doch nur zu viert.«
»Bitte«, sagte Dad. »Sie werden sterben, wenn Sie allein hierbleiben.«
»Ich sterbe so oder so«, sagte Schwester Paulina. »Damit habe ich schon lange meinen Frieden gemacht.« Sie lächelte. Es war nicht das Lächeln einer Verrückten. Eher das eines Menschen, der den Tod nicht mehr fürchtet.
»Wir bleiben bei Ihnen«, sagte Alex. »Julie und ich. Bis Schwester Grace zurückkommt.«
»Alex«, sagte Dad.
»Doch, Hal«, sagte Alex. »Das ist unsere Pflicht.«
»Ich weiß dein Angebot zu schätzen«, sagte Schwester Paulina. »Aber Schwester Grace hat mir nicht erlaubt, das Kloster für Außenstehende zu öffnen. Deshalb muss ich leider ablehnen.«
»Können wir denn noch irgendetwas für Sie tun, wo wir schon mal hier sind?«, fragte Dad.
»Oh ja«, sagte Schwester Paulina. »Helen liegt nun schon seit Tagen auf ihrem Bett. Sie sieht so friedlich aus. Aber es wäre wohl trotzdem besser, sie zu begraben. Meinen Sie nicht auch? Staub zu Staub.«
»Das machen wir«, sagte Dad. »Haben Sie irgendwo ein paar Schaufeln?«
Schwester Paulina erhob sich und deutete auf eines der Nebengebäude. »Das ist der Geräteschuppen. Helen war für den Gemüsegarten zuständig. Sie hatte wirklich einen grünen Daumen. Tomaten so süß, dass man sie zum Nachtisch hätte essen können. Zucchini, Möhren, Mais. Den ganzen Sommer über hat sie uns aus ihrem Garten versorgt. Was wir nicht aufessen konnten, wurde eingemacht. Es war ein wunderbares Leben.« Sie schaute zu den Apfelbäumen hinüber. »Keine Ernte dieses Jahr. So Gott uns gnädig ist, kehrt vielleicht im nächsten Jahr die Fülle zurück.«
»Gott ist uns gnädig«, sagte Dad. »Daran glaube ich fest.«
»Früher habe ich das auch getan«, sagte Schwester Paulina. »Und ich werde es wohl auch wieder tun. Schließlich haben Sie mir zu essen gebracht. Und Sie werden mir mit Helen helfen.«
Dad nickte. »Das wird eine Weile dauern. Wir fangen am besten gleich an. Komm, Alex.«
»Dürfen wir uns ein bisschen umsehen?«, fragte Julie. »Ich hab schon so viel von dieser Farm gehört.«
»Aber natürlich, mein Kind«, sagte Schwester Paulina. »Verzeih mir, dass ich dich nicht begleite. Meine Arthritis meldet sich heute wieder. Es wird sicher bald regnen.«
»Kommst du mit?«, fragte mich Julie. Ich folgte ihr nur zu gern. Wir blieben immer in Sichtweite der Farm, waren aber weit genug weg, um nicht gehört zu werden.
»Jetzt könnt ihr doch bei uns bleiben, du und Alex«, sagte ich.
Julie schüttelte den Kopf. »Alex wird ein anderes Kloster für mich suchen«, sagte sie. »Irgendwo auf dem Weg nach Ohio. Bei der Erzdiözese in Pittsburgh kann man sicher erfahren, wo’s noch eins gibt. Und dann geht er zu den Franziskanern.«
»Das muss er doch gar nicht«, sagte ich. »Carlos wird das niemals erfahren.«
»Er tut das nicht nur wegen Carlos«, sagte Julie. »Er will es auch selbst.«
Aber noch viel mehr wollte Alex mich. Das konnte Julie natürlich nicht wissen. Oder zumindest konnte sie nicht ahnen, wie ernst es ihm war.
»Vielleicht überlegt er’s sich noch anders«, sagte ich. »Du hast doch gesagt, dass er früher gar kein Mönch werden wollte.«
»Das war vorher«, sagte Julie. »Alex hat es mir mal erklärt, als wir in Kentucky waren. Er hat gesagt, Gott hätte mich seinem Schutz anvertraut. Sobald er mich in Sicherheit wüsste, würde er Ihm aus Dankbarkeit sein Leben weihen.«
»Man kann seine
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