Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
»Wir müssen diese Äste von der Straße schaffen. Da fahre ich lieber nicht einfach drüber.«
»Ich mach das«, sagte ich. Alex half mir. Dad war den Schlaglöchern bisher immer geschickt ausgewichen, aber die Straßen waren in einem miserablen Zustand, übersät mit Ästen und anderem Abfall. Meist war das kein Problem, aber hin und wieder mussten wir doch anhalten und irgendetwas aus dem Weg räumen.
»Mir war gar nicht klar, dass du schon so lange von diesem Kloster weißt«, sagte ich. Es erleichterte mein Gewissen, dass Julie eigentlich schon seit einem Jahr in diesem Kloster leben würde, wäre sie im letzten Sommer alt genug dafür gewesen.
»Es ist ein guter Ort«, sagte er. »Die Schwestern werden sich um sie kümmern. Sie werden sie lieb gewinnen.«
»Das haben wir auch«, sagte ich.
Alex nickte. »Ihr wart alle sehr nett zu ihr. Wir haben deiner Familie viel zu verdanken.« Er griff nach dem dicksten Ast und zerrte ihn an den Straßenrand, während ich ein paar von den kleineren wegtrug. Durch die Windschutzscheibe sah ich, dass Dad sich zu Julie umgewandt hatte und mit ihr sprach.
»Alles wird gut«, sagte ich sanft. »Für Julie. Für uns.«
»Wenn ich könnte, würde ich dich ewig lieben«, sagte Alex.
»Das kannst du doch«, sagte ich und sehnte mich verzweifelt danach, ihn in den Arm zu nehmen. Stattdessen konnte ich nur rasch mit einer Hand die seine streifen. Einen Moment lang hielt er meine Hand dabei fest.
Wir stiegen wieder ein und Dad setzte die langsame Fahrt durch den Bundesstaat New York fort. Alex und Julie hatten einander offenbar nichts mehr zu sagen, in welcher Sprache auch immer. Auch Dad gab es schließlich auf, das Gespräch in Gang zu halten. Ich sah, dass er sich wegen des Motors Sorgen machte, aber er sagte nichts.
Wir legten noch einen weiteren Boxenstopp ein. Viel mehr war es tatsächlich nicht. Wir hatten ein paar Konserven dabei, aber die wollten wir fürs Abendessen aufsparen. Kein Laden hatte geöffnet, keiner der Supermärkte, an denen wir vorbeikamen, kein Motel und keine Tankstelle. Mir fiel ein, dass Matt und Syl sich in einem Motel kennengelernt hatten. Ich fragte mich, ob in denen entlang der Straße vielleicht Leute übernachteten, aber es war nirgends ein Lebenszeichen zu sehen.
Wir fuhren hundertdreißig Kilometer, ohne einem anderen Auto zu begegnen. Das Schlimmste daran war, dass ich das völlig normal fand.
»Ich kann kaum glauben, dass hier noch irgendwo Menschen wohnen«, sagte ich. »Leben denn jetzt alle in irgendwelchen Evak-Lagern oder Städten?«
»Sieht ganz danach aus«, sagte Dad. »Obwohl auf den Straßen immer ziemlich viele Leute unterwegs waren. Es gab zwar auch Tage, an denen man keiner Menschenseele begegnete, aber das war eher selten.«
»Syl hat mir erzählt, dass diese Gruppen unterwegs ständig wechseln, sich neue Leute anschließen oder alte sich trennen«, sagte ich. »Aber eure Gruppe war die ganze Zeit zusammen, oder?«
»Charlie hat uns zusammengehalten«, sagte Dad. »Er hat nicht zugelassen, dass wir aufgeben.«
»Echt unglaublich«, sagte ich. »Da habt ihr Tausende von Kilometern zurückgelegt, nur damit du, Dad, jetzt wieder bei uns bist. Und Julie in dieses Kloster gehen kann, von dem Alex schon vor einem Jahr gehört hat. Ist doch verrückt, oder?«
»Gott war uns gnädig«, sagte Alex.
»Ja, das war Er«, bestätigte Dad.
Tja, dazu konnte man wohl nicht mehr viel sagen.
Zweimal mussten wir noch anhalten – einmal, um den Motor abkühlen zu lassen, das andere Mal, um die Straße freizuräumen. Dann hatten wir die Stadt erreicht.
Wie alles andere war auch sie komplett verlassen. Früher muss sie einmal sehr hübsch gewesen sein mit ihren Antikgeschäften, Bäckereien mit französischem Namen und Teelädchen. Aber jetzt war der Ort genau so eine Geisterstadt wie Howell. Nein, noch schlimmer. Bei Howell wusste ich zumindest, dass dort noch Menschen lebten.
»Das Kloster liegt an der Whitlock Lane«, sagte Alex. »Die geht von der Albany Post Road ab.«
»Dürfte nicht schwer zu finden sein«, sagte Dad. »Die Albany Post Road ist in solchen Städtchen meist die Hauptstraße. Mal sehen, wohin uns diese hier führt.«
Durch Wohnviertel mit leeren Straßen. Aber dann entdeckten wir erstaunlicherweise – oder vielleicht eher wundersamerweise – tatsächlich ein Hinweisschild zu den ›Notburga Farms‹.
»Das ist es«, sagte Alex. »So heißt das Kloster.«
Dad bog links ab und wir fuhren ein paar Kilometer
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