Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
mal. Aber wenn du auch nicht weißt, wo’s eine gibt, dann lass ich dich jetzt wieder in Ruhe.«
Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, wirkte Syl verlegen. »Hör zu«, sagte sie. »Manche Sachen habe ich Matt erzählt, andere nicht. Aber wenn ich ihm irgendwas verschwiegen habe, dann nur deshalb, weil er das alles nicht gern hört. Klar? Ich schäme mich für nichts, was ich gemacht habe. Hätte ich es nicht getan, wäre ich jetzt nicht hier und würde nicht mehr leben. Matt weiß das. Und er akzeptiert es. Aber die Einzelheiten will er trotzdem nicht hören.«
»Ich erzähl’s ihm nicht weiter«, sagte ich. »Versprochen.«
»Großes Ehrenwort?«, fragte Syl, dann lachte sie. »Schon gut, ich glaube dir. Ist sowieso egal. Ich war damals in einem Evak-Lager. Das muss ungefähr vor einem Jahr gewesen sein. Ziemlich zu Anfang. In diesen Lagern gibt es Wachen, hauptsächlich Militärpolizei, fast alles junge Männer. Einer von ihnen hatte ein paar Flaschen Wodka aufgetan und wollte das mit seinen Kumpels feiern. Was sie dann auch taten, zusammen mit ein paar Mädchen. Wir sind in ein leer stehendes Haus in der Nähe des Lagers eingebrochen und haben uns amüsiert.« Sie unterbrach sich. »Es war wichtig, die Wachen bei Laune zu halten. Wenn man sich bei einem von ihnen beliebt machen konnte, bekam man manchmal mehr zu essen oder zusätzliche Decken.«
Ich begriff, warum Matt das alles nicht hören wollte. Und ich verstand allmählich, warum Alex und Carlos Julie so verzweifelt zu schützen versuchten.
»Im Lager gab es viele Mädchen«, fuhr Syl fort. »Die Wachen hatten reichlich Auswahl. Deshalb musste man tun, was sie wollten, und dafür sorgen, dass sie sich wichtig fühlten – so als wären sie der Rugby-Star und du ihr glühendster Fan.«
»So ist Matt aber nicht«, sagte ich.
»Nein«, sagte Syl. »Überhaupt nicht. Und Hal, Charlie und Alex auch nicht. Aber die Wachen wären vielleicht auch nicht so gewesen, wenn alles anders gekommen wäre. Aber es ist nun mal nicht anders gekommen. Deshalb waren sie unheimlich von sich selbst eingenommen. Wenn man mehr zu essen haben wollte, musste man so tun, als wären sie die tollsten Typen der Welt. Für sie gab es nichts Schöneres, als einem ihre Macht zu beweisen.
An dem Abend waren wir alle ein bisschen betrunken und sie fingen an, damit zu prahlen, wie viele Leute sie schon umgebracht hatten. Dann berichtete jeder von seinem ersten Toten. Einer der Jungs erzählte, bei ihm wäre das gewesen, als er eingeteilt worden war, ein College zu räumen, das eine sichere Stadt werden sollte. Es wäre lustig gewesen, meinte er, weil es ausgerechnet die Sexton University war. Dort hatte er sich schon mal beworben und war abgelehnt worden. Jetzt durfte er da die ganzen Professoren abknallen, die Widerstand leisteten. Ich hab gemeint, hoffentlich hätte er auch den Leiter der Zulassungsstelle erwischt. Da lachte er.«
»Wieso kannst du dich an den Namen erinnern«, fragte ich. »Wo du doch betrunken warst?«
»So betrunken nun auch wieder nicht«, sagte Syl. »Außerdem habe ich damals noch verschiedene Namen ausprobiert. Einer davon war Anne Sexton, bloß dass Anne ziemlich langweilig klingt. Und ein Nachname, der sich zu Sex abkürzen lässt, ist auch nicht so toll. Also hab ich mich für Sylvia Plath entschieden. Die mag ich sowieso lieber.«
Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach, aber das machte nichts. »Hat der Wachmann denn auch gesagt, wo die liegt?«, fragte ich. »Die Sexton University, meine ich?«
Syl schüttelte den Kopf. »Er hatte eh schon zu viel geredet. Am nächsten Tag hab ich gehört, dass sie alle Mädchen, die bei der Party dabei waren, zusammentreiben und einsperren wollten. Ich bin weggelaufen, bevor sie mich finden konnten.«
»Aber wo du schon den Namen kanntest, hättest du sie da nicht auch ausfindig machen können?«, fragte ich.
»Das war mir doch völlig egal«, sagte sie. »Ich hab erst mal versucht, mich nach Osten durchzuschlagen, weil ich wissen wollte, ob noch irgendwer aus meiner Familie lebte. Tat aber keiner mehr.«
»Jetzt hast du wieder eine Familie«, sagte ich.
»Das erzählt Matt mir auch ständig«, sagte sie.
Dem konnte ich nicht viel hinzufügen. So bat ich Syl nur noch, niemandem von unserem Gespräch zu erzählen. Ich wollte nicht, dass Mom davon erfuhr, sagte ich. Syl war einverstanden.
Jetzt sitze ich hier in meiner Kammer, schreibe das alles auf und überlege die ganze Zeit, wie ich rauskriegen kann, wo
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