Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
Rede zu stellen. Und auch sonst niemand. Ich bin ganz allein die sechs Kilometer in die Stadt geradelt.
Ich fahre nicht gern dorthin. Howell erinnert mich an alles, was es jetzt nicht mehr gibt. Es war noch nie eine große Stadt, aber man konnte dort essen gehen, einkaufen oder sonst was machen. Jetzt ist alles wie ausgestorben, außer dem Rathaus, wo die Leute montags ihre Lebensmittel abholen können. Solange es noch welche gibt.
Auf dem Weg zur Bücherei überlegte ich, ob ich wohl ein Fenster einschlagen musste, um reinzukommen. Das kam mir schrecklich unmoralisch vor, so ähnlich, als würde man ein Kirchenfenster zerdeppern. Zu meinem Glück hatte jemand anderes offenbar keine solchen Bedenken gehabt: Eines der Fenster war schon kaputt. Durch das stieg ich ein.
Drinnen war es ziemlich dreckig. Eigentlich hätte mich das nicht überraschen dürfen, schließlich putzten wir bei uns wie die Verrückten, um die Asche einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Was in der Bücherei natürlich niemand tut. Aber irgendwie brachen mir diese kalten, dunklen, schmuddeligen Räume fast das Herz. Fast so sehr wie Hortons Tod.
Ich weinte nicht. Es gibt schon genügend Anlass dazu, da muss man nicht auch noch über ein Gebäude Tränen vergießen. Außerdem würde ich, sollte Mom tatsächlich zu Dad rübergehen und feststellen, dass ich gar nicht dort war, für den Rest meines Lebens Hausarrest bekommen. Was ich eigentlich eh schon habe. Aber dann wär’s offiziell.
Ich ging in die Ecke mit den Nachschlagewerken. Die meisten Bücher waren noch da. Die meisten hatten natürlich nichts mit Colleges zu tun. Ich musste die Rücken vieler inzwischen nutzloser Bücher abstauben, bis ich fand, was ich suchte: den College-Führer für Amerika .
Um ein Haar hätte ich ihn gar nicht herausgenommen. Ich könnte doch so tun, als hätte ich ihn gar nicht gesehen. Und schnell nach Hause zurückfahren, bevor jemand meine Abwesenheit bemerkte. Dann alles vergessen. Alex und Julie würden bei uns bleiben. Zumindest Jon und Julie wären glücklich. War ich es Jon nicht schuldig, Julie am Fortgehen zu hindern? Und Dad und Lisa? Charlie? Wenn Jon unglücklich war, war Mom auch unglücklich. Wenn sie unglücklich war, würde sie Syl unglücklich machen. Dann wäre auch Matt unglücklich. Und alle zusammen würden mich unglücklich machen.
Unwissenheit ist Glück.
Ich zog das Buch aus dem Regal.
Die Colleges waren alphabetisch aufgelistet.
Die Sexton University befand sich in McKinley, Tennessee. Sie hatte circa 5500 eingeschriebene Studenten und war vor allem für ihre landwirtschaftlichen und veterinärmedizinischen Studiengänge bekannt.
Erfolge haben den seltsamen Effekt, dass sie einen immer noch weiter anspornen, selbst bei Dingen, die man eigentlich nicht gerne tut. Ich riss die Seite über die Sexton University heraus und holte mir einen Straßenatlas. Der Staat Tennessee erstreckte sich über fünf ganze Seiten. Die trennte ich ebenfalls heraus. Den Staat musste Alex schon allein finden, aber sobald er dort war, konnte er anhand der Karte den Weg nach McKinley suchen.
Und weil ich hier so schön allein war und ohnehin schon zwei Bücher zerstört hatte, ging ich auch noch in die Lyrikabteilung, suchte nach einer Sammlung zeitgenössischer amerikanischer Gedichte und nahm sie mit. Für Syl. Vielleicht schenk ich ihr die eines Tages sogar.
Bevor ich nach Hause ging, schaute ich noch mal kurz bei Dad vorbei. Gabriel brüllte sich mal wieder seine Babykehle aus dem Leib.
»Er zahnt«, erklärte Lisa, als würde er nicht sowieso dauernd schreien.
Alex, Jon und Julie waren im Wohnzimmer. Alex hielt ihnen gerade einen Vortrag über die Weltgeschichte. Vielleicht hatte er das Gefühl, dass Geschichte noch irgendwie wichtig war. Und Julie glaubte vielleicht, dass Alex noch irgendwie wichtig war. Jon wiederum, dass Julie noch irgendwie wichtig war. Vielleicht fanden sie es aber alle drei auch tatsächlich interessant.
Ich hätte sie unterbrechen können, um Alex hier und jetzt von der sicheren Stadt in McKinley, Tennessee, zu erzählen, ihm und Julie zum Abschied hinterherzuwinken und dann die gebrochenen Herzen zu trösten. Meines eingeschlossen.
Stattdessen nickte ich ihm nur kurz zu, brachte mein Rad in die Garage und ging rauf in meine Kammer, um dies alles aufzuschreiben. Inzwischen bin ich so oft hier, dass ich schon überlegt habe, Gardinen anzubringen.
Alex hat gesagt, ich soll auf das Morgen vertrauen. Vielleicht fällt
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