Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
groß, dass oft Besucher bei uns schlafen. Onkel Raoul allerdings findet, Papa hätte das Haus renovieren müssen. Für ihn sind die goldenen und bordeauxroten Seidentapeten altväterisch, Bad und Dusche zu klein, der Garten ist zu groß, die Obstbäume sind mickerig, »weshalb nicht wenigstens Solothurn, Zuchwil ist und bleibt ein Kaff …!« Er hätte es lieber, wenn Papa immer einen Schritt hinter ihm bleiben würde, sagt Mama. Dabei reut ihn für sein eigenes Haus jeder Centime. Und auch meine Weihnachtsgeschenke werden ihm nun zu teuer. Mama ist überzeugt, dass er mir deshalb nach den Kaffeelöffel kein weiteres Besteck mehr schenkt. »So en Rappeschpaalter!« Papa ärgern geizige Menschen. Ich für mich bin froh, hört das blöde Silber auf, ich werde mir zur Weihnacht
Pünktchen und Anton
wünschen.
Vor dem Einschlafen übe ich mit dem
Tim und Struppi
-Buch lesen. Unter der Tür entdeckt Tina allerdings den Lichtspalt. »Spegni la luce!« Sie löscht gleich selber und schließt das Fenster und die Läden, obwohl ich protestiere. Kaum ist sie in ihrem Zimmer, ist alles wieder offen. Heute ist der Mond ganz weg, die Sterne leuchten heller als sonst, da will ich in den Himmel sehen …
Wo ist Gott eigentlich, wenn nicht über den Wolken? Wenn die Nacht ganz klar ist und es keine einzige Wolke hat? Ich kann mir sein Paradies nicht vorstellen. Und erst recht nicht, dass es dort schöner sein soll als auf Erden. Mir gefällt es hier. Manchmal bin ich einfach nur glücklich, obwohl Papa sagt, wir seien nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um uns das Glück im Paradies zu verdienen.
»Hast du Schulaufgaben?«
»Nur Bubizüg.«
Die Antwort würde Mama genügen. Aber Großmama ist bei uns, sie will es genau wissen. »Möglichst viele Bäume also sollt ihr kennen, wobei Obstbäume nicht zählen.«
Ich muss mit ihr losziehen: Von den Weißtannen am Zaun geht’s zu den Rottännchen beim Weiher, danach hinter die Garage zu den Eiben.
»Eine Tanne ist nicht einfach eine Tanne! Eiben sind für Mensch und Tier giftig, merk dir das, vor allem, wenn du später mal reitest.«
Ausgerechnet an ihrem Erstkommunionstag hat Großmama zusehen müssen, wie vor dem Hotel ihrer Eltern ein Postkutschenross zusammengebrochen ist. »Das habe ich nie mehr vergessen, es ist einfach am Boden gelegen, hat gezuckt, hie und da hat es sogar noch mit den Hinterbeinen ausgeschlagen, aus dem Mund ist ihm weißer Schaum gelaufen, der Kutscher hat geschrien und …«
»… du hast geweint.«
»Nein, vor meinem Papa, deinem Urgroßvater, hat man nicht weinen dürfen. Komm, dort ist eine Blautanne, siehst du, wie sie silbern leuchtet?«
Ich nicke fortwährend, damit es schneller geht.
»Hat die Kiefer nicht mehrere Namen? Erinnere dich!«
»Ein Name pro Baum genügt. Und zudem weiß ich jetzt wirklich genug …«
»Los, wie heißt die Kiefer sonst noch?«
»Arche, und sie wird mindestens tausend Jahre alt!«
»Nein, Arve. Aber du kannst die Arche ruhig als Eselsbrücke nehmen.«
»Was ist eine Eselsbrücke?«
»Um sich etwas Neues zu merken, merkt man sich ein bereits bekanntes Wort – und schlägt so die Brücke zum Gesuchten.« »Und was haben die Esel damit zu tun?«
»Esel sind etwa gleich störrisch wie manchmal unser Gedächtnis. Weil sie kein Wasser mögen, hat man für sie früher kleine Brücken gebaut. So hat man sie über den Fluss ans Ziel gebracht. Je älter man wird, desto mehr Eselsbrücken braucht man …«
»Papa hat mal zu einem Polizisten ›alter Esel‹ gesagt, als er unterm Scheibenwischer einen Strafzettel fand.«
»Tatsächlich?!«
»Ja, aber erst im Auto!«
Auf dem Spaziergang durch den Birken-, Buchen und Föhrenweg finden wir die dazugehörenden Bäume nicht so schnell wie bei uns. Dabei scheint Großmama die Zeit völlig zu vergessen. »Wenn du Blumen und Bäume gern hast, wirst du im Leben nie allein sein.«
»Auch nicht, wenn mir der Mann stirbt?«
Sie überhört meine Frage.
»Durch die Blumen und Bäume vermag Gott mit uns zu sprechen.«
Nach der Schule kann ich das Mittagessen kaum erwarten, so stolz bin ich! »Das mit der giftigen Eibe hat allen imponiert, und erst die Geschichte mit dem Postross! Ich habe immer wieder die Hand aufgehalten, am Schluss hat mich Fräulein Hollder sogar vor den anderen gerühmt!«
Großmama lächelt erfreut. Und Mama und Papa sind so zufrieden, dass ich es gleich ausnütze.
»Wann kaufen wir endlich einen Hund?«
»Bald.«
»Versprochen,
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