Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
in die Stadt zu fahren. Nach dem Mittagessen telefoniert Mama mit Tanti Schmid.
»Sie nehmen euch mit, aber beeilt euch, in zehn Minuten möchten sie aufbrechen!«
Koni sitzt schon auf seinem Kindervelo, da merke ich, dass ich die Mütze vergessen habe. »Warte, ich hole noch schnell meine Kappe!«
Die Eltern reden im Entree dermaßen laut über eine »Kleopatra«, dass sie mein Eintreten überhören.
»Hätt ich mir ja denken können, dass es die lustige Witwe war. Und ihr habt also bis morgens um vier über Pferde geredet …«
Da Koni im Vorgarten auf mich wartet, wage ich nicht, länger an der nur angelehnten Garderobentür zu lauschen.
Am Aschermittwoch geht Mama allein nach Bern. Wir müssen mit Papa in die Abendmesse, während in der Nähe der Kathedrale gleichzeitig der Böög verbrannt wird.
»Rosi und ihre Schwester und Gerda, alle gehen zuschauen, bloß ich darf nicht!«
Das stimmt Papa nicht um, im Gegenteil. »Wenn die anderen aus dem Fenster springen, springst du dann auch?«, fragt er gereizt.
Obwohl er keine Antwort will, sage ich: »Das ist überhaupt nicht das gleiche.«
»Im Prinzip schon. Man muss nicht immer tun und wollen, was alle tun und wollen!«
»Das wird doch lustig, heute streuen sie uns die Asche auf den Kopf, oder?«
»Das ist nicht lustig«, erklärt Papa Koni, »die Asche ist das Zeichen der Buße und der Beginn der Fastenzeit.«
Während der Messe denke ich extra unfromme Dinge.
»Gibt es ab morgen wirklich nichts Süßes mehr, überhaupt nix mehr«, will Koni beim Zähneputzen wissen.
»Letztes Jahr durften wir beim Sonntagszmorge wenigstens Konfi essen, aber ich glaube nicht, dass Papa dieses Jahr das Fastengebot wieder lockert.«
»Mir doch egal, bei Tanti und Onggi gibt es immer Süßes, die sind reformiert!«
»Du aber nicht!«
»Du wirst mich doch nicht verpetzen?«
»Wir könnten es so machen: Falls ich niemand sage, dass du gleichwohl schleckst, zeigst du mir dafür mal …«
»Was? Das?«
Koni zieht schnell seine Pyjamahose hinunter – und gleich wieder hoch.
Schon im Bett liegend höre ich, wie Papa vom Hundespaziergang heimkommt. Jetzt höre ich ihn telefonieren. Ich sehe am anderen Ende der Leitung eine Kleopatra. Aber sie ist nicht fastnächtlich verkleidet, sie wirkt so echt, dass ich mir wünsche, ich schliefe sofort ein.
Immer und überall muss ich auf Margrit warten. Aber heute soll sie mal auf mich warten! Heute kann sie mal auf der kalten Bank frieren und den Hals recken und Angst haben, ich würde nicht kommen. Zudem macht das Trödeln eigentlich Spaß! Ringsum ist vieles neu, auf dem Weg hinüber zum Stadtwald entdecke ich sogar ein Gehege mit Pferden. Das Fohlen kommt heran und lässt sich streicheln. Der Schimmel hingegen bläst seine Nüstern geräuschvoll auf, schnaubt ungeduldig, schnellt mit seinem Kopf knapp an meinem vorbei und trabt ins Hintere des Feldes. Sein Fell ist anders weiß als der Schnee. Je näher der Weiher kommt, desto mehr treibt es mich voran. Ich will nicht – und schaue doch ständig auf die Uhr. Das letzte Stück spute ich mich. Schlags zwei erreiche ich unsere Bank, die eigentlich nur der Strunk eines abgestorbenen Baumes ist. Weit und breit keine Margrit! Den breiten Teil des Weihers haben unbekannte Buben bereits in Beschlag genommen. Zwar ziehe ich meine schönen Schlittschuhe mit Freude an – doch aufs Eis wage ich mich als einziges Mädchen nun doch nicht. Nächsten Mittwochnachmittag komme ich mindestens eine halbe Stunde zu spät!
Das Geschrei der Buben erinnert mich an die ersten Redeversuche von Koni. »Nei! Gib! Haut! Los! Äh! Füre! Chumm! Los! Heb!« Wenn man die Augen schließt, kratzen die Kufen laut und unangenehm. Es ist verdammt kalt. Sogar in den Handschuhen sind die Finger steif geworden. Ich sitze auf meine Hände, um sie ein bisschen zu wärmen. »Verdammi! Verdammi! Verdammi!« Das ist nicht geflucht. Bloß »Gopferdammi« darf man nicht sagen, auf Schriftdeutsch heißt das nämlich »Gott verdamme mich«. Betty sagt es deshalb extra gern. Sie macht sich mit Wörtern wichtig. Eisbahnen nennt sie Schlöf. Die anderen denken, der Ausdruck sei von mir. Aber ich habe noch nie selber ein tolles Wort erfunden, auch tschent stammt nicht von mir. »Auf der Schlöf ist es tschent« – das tönt doch einfach toll!
Meine Zehen sind Eiszapfen, als Margrit endlich erscheint. Gut gelaunt. Im Schlepptau hat sie Gerda und Kläri und eine Handvoll Mädchen aus der oberen Klasse. Für die Verspätung
Weitere Kostenlose Bücher