Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
für das Zeitgenössische kann man ja gleichwohl sein.«
Frau Brückner scheint Mamas frostiges Lächeln nicht zu stören, statt die ausgeteilten Karten aufzunehmen, redet sie weiter. »Meret Oppenheim zum Beispiel, wenn du denkst, vor zwanzig Jahren hat sie bereits…«
»Jaja«, fällt ihr Papa ins Wort, »das ist die mit der Pelztasse. Die hat ja für ihre Berühmtheit auch einiges getan!« Und für Mama ergänzt er: »Das ist die, die sich zuerst mit Maschinenöl verschmiert und dann hat fotografieren lassen, die Halbnärri.«
»Nackt, wie Gott sie schuf!«
Herr Brückner sagt das mit einem Stolz, als wäre er selber dieser Gott gewesen. Noch gibt Frau Brückner nicht auf. »So dilettantisch kann die Oppenheim ja nicht sein; immerhin hat sie für das Picasso-Stück die Kostüme entworfen! Übrigens von Spoerri inszeniert. Sollte es je wieder in Bern aufgeführt werden, müsst ihr unbedingt mitkommen!«
»Halt mal«, sagt Papa mit erhobener Hand, »ich dachte, Picasso sei Maler, und Spoerri ist doch Tänzer, wir haben ihn selbst gesehen, verwechselst du da nicht was?«
»Nein, nein, er hat ja auch nur das eine Theaterstück …, äh, wie war bloss der Titel?« Herr Brückner überlegt kurz: »Irgendetwas von Wunsch und Schwanz.« Er beginnt schallend zu lachen.
Mama wechselt ein paar Karten aus und fächert sie demonstrativ neu. »Können wir weiterjassen?«
Als Verlierer müssen Mama und Papa auch den nächsten Fendant bezahlen.
Beim Nachtessen dürfen wir weder die Suppe noch den Salat auslassen.
»Keine Widerrede«, warnt Papa.
»Aber Anton hat viel weniger als ich!«
»Und bei mir sind wieder diese grausigen Bohnen drin!«
Ich höre, wie Papa Mama zuflüstert, die nächsten Ferien würden sie ohne Kinder verbringen. Unterdessen schiebt Frau Brückner schon wieder ihr Dessert tischabwärts. »Der Jungmannschaft tut’s besser. Ich kann mir in meiner Keilhose kein Gramm mehr leisten!«
Sie öffnet ihr Schminktäschchen, entnimmt ihm einen kleinen Handspiegel, öffnet den Lippenstift und zieht sich ihre Lippen nach, knallrot. Mit einem Augenzwinkern kündigt sie einen Witz an. »Unerhört, sagt eine Frau zu ihrem Begleiter im Kino: Dort vorne sitzt mein Mann mit einer Blondine, während ich meine kranke Mutter besuche!«
»Apropos«, fährt Herr Brückner gleich fort, »weil mich meine Angetraute betrogen hat, frage ich sie: War es der Xaver? Nein. So war es der Noldi? Nein. Am Ende der Peter? Nein. Typisch, sage ich zu ihr, nicht einmal meine Freunde sind dir gut genug!«
Erneut lachen die Erwachsenen.
Anton greift nach seinem Portemonnaie, das er neuerdings in der Gesäßtasche seiner Hose mit sich trägt, und geht zum
einarmigen Banditen
. Papa und Herr Brückner machen für Mariella, Koni und mich auch ein paar Münzen locker. Obwohl es mehrmals herrlich rasselt, haben Mariella und ich lange vor meinen Brüdern alles verspielt.
»Jetzt ab ins Bett«, ruft Mama. Sie sind zum Jassen an den runden Tisch gewechselt und trinken Kaffee mit Schnaps.
Mariella trägt ihren selbst gehäkelten Büstenhalter, den sie nicht wie Mama hinten, sondern vorne öffnet. Völlig ungeniert zieht sie ihn aus. Natürlich schaue ich nicht auffällig, aber ich sehe schon, was ich will. Ihre Brustwarzen sind viel dunkler und größer als meine, vorne haben sie kleine Zäpfchen. Sie zieht ein Nachthemd über und schlüpft ins Bett.
»Ziehst du denn deine Unterhosen nicht aus?«
Sie schaut mich erstaunt an: »Ma sì, cara, sotto la coperta.«
Ich tue es ihr gleich und ziehe meine Unterhose auch unter der Decke aus. »Du«, frage ich sie, »wann haben deine Brüste zu wachsen begonnen?«
»Das weiß ich nicht mehr! Sei froh, dass du noch ein paar Jahre lang keinen reggipetto tragen musst.«
»Darf ich deinen mal ausprobieren?«
Bevor sich Mariella recht gewahr wird, stehe ich mit ihrem Büstenhalter vor ihr. Sie knöpft ihn mir amüsiert zu. Wir stopfen Taschentücher hinein, dann öffnet sie den Wandschrank, stellt mich vor den Spiegel und bindet mir ihr großes Schultertuch um die Pyjamahose: »Ecco la nostra piccola signorina!«
Mariella hat die Socken, die schwarze Skihose, den Pulli und die Jacke für den nächsten Tag sorgfältig auf dem Holztisch am Fenster zurechtgelegt. Mama hat ihr diese Sachen überlassen, ebenso ihre alten Skier. Aber Mariella mag das Sportzeug nicht, ich merke es ihr an.
Nach dem Lichterlöschen verrate ich ihr ein Geheimnis: »Eine von der Klasse hat mir lederne Schlittschuhe
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