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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Preis, der zwar Nobel heißt, aber nichts mit vornehm zu tun hat. Mehr erklärt Jean Koni und mir nicht, da er merkt, dass es uns nicht interessiert. Lange kann er Mama mit seinem Camus allerdings auch nicht fesseln.
    »Die philosophischen Gespräche sparst du dir lieber für deinen Spitalbesuch auf. Fang aber bloß nicht von Sartre an, sonst ereifert sich unser Patient, und wir sollen jede Aufregung von ihm fernhalten.« Mama sagt das lachend, und auch Jean lacht sie an …
    Ein Telefonanruf von Tanta Iris bringt alles durcheinander. Mama hält rasch ihre Hand auf die Muschel des Hörers und flüstert: »Ich kann nicht mit ins Spital kommen, schau doch nach dem Besuch nochmals bei uns rein, ich erkläre dir dann alles.« Und zu uns: »Begleitet Jean zum Auto!«
    Mama telefoniert lange mit Tanta Iris, danach mit ihren anderen Schwestern. Zwischendurch kommt sie uns Gutnacht sagen – mit völlig verweinten Augen.
    Onkel Valentin ist gestorben.
    Sie geht gleich wieder ans Telefon.
    In meinem Traum ist Mama an einer Modeschau Mannequin. Als sie am Ende des Laufstegs vor den Besuchern den Schleier ihres Hütchens hebt, geht ein Gelächter los: Das Gesicht ist Onkel Valentins Gesicht. Ich gehe auf ihn zu und will ihn mit einem Kuss begrüßen, aber er dreht sich um und läuft in den Wohnwagen. Die Eingangstür fällt zu, und zwischen ihm und mir kommt ein Vorhang herunter, dunkel und schwer … Er erdrückt mich! Im Innern höre ich Blitz bellen, die Erde unter mir ist nass und weich – »ich versinke!!«
    Mein Schrei weckt mich. Weinend rufe ich so lange nach Mama, bis sie kommt.
    Als sie mitten in der Nacht das zweite Mal hochkommen muss, blickt sie mich enttäuscht an. »Hör mit diesem Theater auf! Ich habe weiß Gott im Moment genug Sorgen! Einen eisernen Vorhang gibt es nicht, das ist nichts als ein Symbol. Du hast nur schlecht geträumt, Träume sind Schäume! Schlaf jetzt wieder ein.«
    Sie gibt mir ein Munzi und deckt mich bis zum Kinn zu.
    Aber in der gleichen Nacht schreit es wieder in mir los. Jetzt tritt Mama verärgert ins Zimmer. Sie lässt das Roseggwägeli kommen, droht sie, wenn ich nicht endlich normal tue.
    Obwohl Papa erst gestern aus dem Spital heimkommen durfte, will er Mama zur Beerdigung begleiten. Es macht mir Angst, wie verändert Papa ist. Dass er sich nicht selber ans Steuer setzt, ist auch kein gutes Zeichen. Hoffentlich regt ihn Mamas Fahrweise nicht auf.
    Als ich in die Küche gehe, sitzt Maria am Tisch und heult.
    »Weinst du wegen Onkel Valentin?«
    »Ma no. Ich habe ihn ja kaum gekannt.« Sie wischt sich mit dem Abwaschlumpen den Rotz unter der Nase weg.
    »Weshalb denn?«
    »Non ne posso più. Ich halte es ohne meine Familie und ohne die Nähe zu Padre Pio nicht mehr aus! Ich muss wieder zurück, devo ritornare in Italia.«
    Ich setze mich neben sie und weine auch.
    Weil meine Eltern nach der Beerdigung Großpapa in Naters besuchen, darf Gerda am Samstagabend zu mir kommen. Koni schläft in meinem Bett, und Gerda und ich machen uns im Bubenzimmer breit. Wir essen bei Maria in der Küche, danach spielen wir alle
Eile mit Weile
, bis im Fernsehen
Charleys Tante
beginnt. Sogar die traurige Maria kann über Heinz Rühmann lachen, obwohl ich ihr nur wenig übersetze.
    Vor dem Einschlafen will sich Gerda ein bisschen zu mir ins Bett legen.
    »Falls ich hier einschlafe und falls wir schlecht träumen, spürt die eine wenigstens, dass die andere da ist.« Ihre Stimme tönt in der Dunkelheit liebenswürdiger als sonst. Ob sie mich bedauert, weil Onkel Valentin gestorben ist?
    »Gerda, hast du eigentlich auch einen Lieblingsonkel?«
    »Ich? Nein. Und ich habe auch nie eine Lieblingstante gehabt, meine Eltern sind fast mit der ganzen Verwandtschaft zerstritten.«
    »Dafür hast du eine nette große Schwester. Mein älterer Bruder und ich, wir kommen miteinander überhaupt nicht aus.«
    »Ist dein Onkel eigentlich an einer Krankheit gestorben?«
    »Ich weiß es nicht genau. Aber ich will das sowieso vergessen.«
    »Kannst du etwas einfach vergessen, wenn du willst?«
    »Nein, eben nicht. Einen Satz zum Beispiel, den kann ich überhaupt nicht mehr vergessen.«
    »Welchen?«
    »Es kommt vielleicht der Tag, an dem du deinen Papa nicht mehr besuchen kannst.«
    Herr Majer wünscht, dass ich nach der Schule im Zimmer bleibe.
    »Du hast am Thema vorbeigeschrieben.«
    Da ich nichts sage, fragt er mich aus. »Stimmt das, was in deinem Aufsatz steht?«
    »Ja, ziemlich.«
    »Ziemlich schreibt man übrigens

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