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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Papas Bettrand sitzt die Frau, die ihn jeden Tag besucht. Mama sagt, sie hilft seit dem Tod ihres Mannes im Spital aus und führt mit Papa Gespräche, die ihm guttun. Sie färbt sich die Haare, an dem Seitenscheitel wächst Grau nach. Ich hätte gerne zugehört, worüber sie mit Papa spricht. Aber sie redet vor allem mit mir. »Sag mir ruhig du. Ich bin die Heidi oder auch Heidle, bloß Adelheid darf man mir nicht sagen … Also, hast du das Lager genossen? Ihr wart im Engadin, nicht wahr?« »Ich bin schon eine ganze Woche wieder zurück, die Schule hat letzten Montag begonnen.«
    »Gehst du gerne in die Schule? Was willst du einmal werden?« Statt zu antworten, frage ich, »haben Sie einen Hund?«
    »Ja, eine lustige Trottoirmischung, du musst meinen Loulou mal kennenlernen! Er ist klein, aber zäh! Wenn ich ausreite, trabt er schön neben Asi einher.«
    »Wer ist Asi?«
    »Mein Pferd heißt so. Es bedeutet der Eilige, es ist aber auch ein Kosename.«
    »Unser Hund hat Blitz geheißen.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Es ist wirklich nicht mehr gegangen«, sagt Papa.
    Schweigend sieht er an die Decke. Sein Brustkasten hebt und senkt sich regelmäßig. Ich versuche mich seinem Ein- und Ausatmen anzupassen.
    »Ein wunderbarer Hund, bei allen Nachteilen, die er gehabt hat, so ein Tier werden wir nie mehr haben …«
    Unter verschränkten Armen halte ich die Hand auf mein Herz, um nachzuempfinden, ob es in Papas Rhythmus schlägt.
    »Sein Spürsinn«, fährt Papa fort, »ist geradezu phänomenal gewesen, instinktiv hat der Kerl gespürt, wie es mir zumute ist, manchmal noch bevor ich es mir selber eingestanden habe.«
    »Deine Herzschwäche zumindest hättest du dir längst eingestehen sollen!« Heidi tönt besorgt.
    »Jedenfalls wird jetzt alles anders werden. Einen zweiten Infarkt überstehe ich nicht, dessen bin ich mir bewusst.«
    »Was habt ihr denn für ernste Gespräche!« Mama begrüßt Heidi mit einem Witzchen über ihre strenge Arbeitskleidung und schickt Papa einen Handkuss.
    »Einen lieben Gruß von Ami, er schaut gegen Abend noch rasch rein!«
    »Ton Ami«, fragt Heidi Mama.
    »Du kennst den doch sicher auch, Amacher, Internist, drüben in der Chirurgischen …«
    »Klar, der Spital-Beau, den kennt doch jede.«
    Die beiden zwinkern einander zu.
    »Meine Lieben, ich sollte dann wohl wieder an die Arbeit.« Aber Heidi steht nicht auf. Sie schlägt ein Knie übers andere, streckt wohlig die Arme in die Höhe und gähnt, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Durch ihre Nylonstrümpfe sieht man Härchen am Schienbein. Mama findet das ungepflegt. Und Papa? Warum muss diese Frau überhaupt so viel bei Papa sein?
    Heidi fragt, wie sich unser neues Dienstmädchen entwickelt hat.
    »Ach«, und der Spott kräuselt Mamas Lippen ein wenig, »so wie sie aussieht, ist sie auch, eine Betschwester eben. Kaum tut sie den Mund auf, schwärmt sie von ihrem Pio …«
    »Dem Papst?«
    »Nein, nicht von Pius. Unsere Maria vergöttert einen gewissen Padre Pio, irgendwo im untersten Stiefel soll er Wunder wirken.«
    »Das ist ein Heiliger«, erkläre ich, »dem bluten die gleichen Wunden wie Jesus am Kreuz, seit Jahren! Aber sie stinken nicht, sie riechen nach Blumen! Und Maria hat schon mal bei ihm gebeichtet. Man muss Schlange stehen, um bei ihm beichten zu dürfen. Einer Sizilianerin, die ohne Pupillen geboren ist, hat er die Augen zurückgegeben, er …«
    Mama unterbricht mich. »Du kannst das Papa alles mal erzählen, wenn du alleine bei ihm bist, gell. Was wolltest du eigentlich mit Gerda machen? So geh halt zu ihr, wenn du unbedingt willst!«
    Aber Gerda ist fort. Nach langem Läuten schau ich durchs Garagenfenster – der Mercedes ist nicht drin.
    Bei uns ist wenigstens Maria daheim. Sie ist für eine »passeggiata« gerne zu haben. Schade, dass ich mein Altärchen zerstört habe, es hätte ihr sicher gefallen. Ich schlage ihr vor, wir spazieren quer durch den Wald und besuchen Rosmarielis Grab, d’accordo? Ich stecke mein Bisibäbi in den Sportsack, dann brechen wir Hand in Hand auf. Nachdem ich Maria beim Feuerplatz das mit dem erhängten Mann beschrieben habe, halten wir uns etwas fester an den Händen. Vor dem Grab kniet sie hin und betet – und betet.
    »Wie lange machst du noch?«
    Maria blickt erschrocken auf, als hätte ich sie geweckt. Ich glaube, man nennt das gläubige Trance, ich würde diesen Zustand gerne auch mal erleben. Nun sieht sie das Bisibäbi, es sitzt seitlich vom Grabstein. Sie schüttelt sich den

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