Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Staub vom Kleid und zeigt auf die Puppe. »Nimmst du sie nicht mit heim?«
Ich schüttle den Kopf.
»Brava ragazza!«
Auf dem Heimweg erzähle ich Maria, dass Rosmarieli bloß im Vorhimmel ist. Sie weiß darauf nichts zu sagen.
Beim Nachtessen frage ich Mama etwas über Heidi aus. »Warum ist diese Frau denn so lustig, wenn sie doch ihren Mann verloren hat?«
»Weil die beiden schon vor seinem Tod mehr oder weniger getrennte Wege gegangen sind.«
»Hat Heidis Mann an der letzten Fasnacht noch gelebt?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Nur so.«
Ob diese Heidi Papas Kleopatra war?
Onkel Valentin ist gestorben
Der Stellvertreter, der Lehrer Übelhart vertritt, ist jung und tschent, er heißt Eduard Majer.
»Und wenn ihr mich Major nennen wollt, habe ich auch nichts dagegen.«
Damit er sieht, wo die Klasse steht, müssen wir als Erstes einen Aufsatz schreiben. Morgen gibt es ein Diktat sowie eine Rechnungsklausur.
»Nächste Woche wird’s gemütlicher, dann nehme ich Zeitungen mit. Im Tagesgeschehen finden wir viele Ansätze für den Unterricht«, sagt er, »nicht bloß, was die Journalistensprache anbelangt. Liest von euch schon jemand die Zeitung?«
Nur August hält die Hand hoch, doch dem glaubt das sowieso niemand.
»Das heutige Aufsatzthema kann die Klasse selber bestimmen. Versucht euch auf ein Thema zu einigen.«
Es wird laut und gibt Streit.
»Ruhe!«, ruft Herr Majer. »Da ihr euch nicht einigen könnt, wählt eben jeder sein Thema selbst! Ich lese sowieso lieber Verschiedenes als zweiundvierzigmal das Gleiche.«
Er meint es ernst. Mit baumelnden Beinen sitzt er auf seinem Pult, blickt von Reihe zu Reihe, sagt nichts mehr. Nur Vereinzelte beginnen zu schreiben. Die meisten starren wie ich auf das leere Blatt. Margrit kaut am Bleistift, ich am Daumen. Der Zeiger der Uhr rückt schneller vor als sonst …
»Nun merkt ihr, wieviel schwieriger es ist, sich in völliger Freiheit für etwas zu entscheiden, als wenn man nur zwischen zwei Möglichkeiten wählen muss – oder, noch einfacher, wenn man nur zu gehorchen hat.«
Bei meinem nächsten Spitalbesuch erzähle ich Papa, wie Herr Majer uns hat zappeln lassen. Gespannt fragt er, wie die Sache ausgegangen ist.
»Herr Majer hat uns schlussendlich das Thema
Die Qual der Wahl
gegeben. Dazu sind uns aber bloß noch anderthalb Stunden geblieben. Wenigstens wird er die Schreibfehler nicht bewerten, nur anstreichen, das hat er versprochen.«
»Dein Glück! Was hast du denn geschrieben?«
»Ich habe nur den ersten Teil des Titels genommen, einfach die Qual – ohne die Wahl.«
»Wie ist das zu verstehen?«
Ich komme nicht dazu, es zu erklären. Zuerst will eine Krankenschwester Papas Blutdruck messen, und noch ist sie nicht fertig damit, erscheint Onkel Hardi. Unterm Arm hat er eine Flasche. »Medizin für dein Herz!«
Er berichtet Papa von einer »kotzlangweiligen« Klassenzusammenkunft. Obwohl er nicht schwitzt, wischt er sich mit dem Handrücken über die Stirn, »fürchterlich, diese Typen!« Mit Gesten macht er sich über die dicken Bäuche und Glatzen lustig. Dabei hat Onkel Hardi ja selber schon schütteres Haar! Weil er mich bald nicht mehr wahrnimmt, erzählt er Papa Sachen, die ich wohl nicht hören dürfte. Er sagt etwas von einer »Protestierten« oder so ähnlich, auf jeden Fall ist in Deutschland eine berühmte Frau ermordet worden, über die vielleicht ein Film gedreht wird.
»Jaja«, Onkel Hardi öffnet das Fenster, damit sein Zigarettenrauch nach draußen kann, »das könnte für ein paar Politiker peinlich werden. Heute würde sich wohl mancher sagen: lieber Nitrat und Nitrit, als was mit der Nitribitt!«
Sie lachen beide. Und noch lauter, als Papa sagt: »Nun, ein Kostverächter bist ja auch du nicht gerade!«
Bei der Heimfahrt versuche ich, den Birchihügel hinaufzukommen, ohne vom Velo zu steigen. Wenn ich es kann, darf ich mir etwas wünschen! Fast hätte ich es geschafft, da überholt mich ein Auto derart nah, dass ich absteigen muss. Oder ist es bloß meine Ausrede, da ich völlig außer Atem bin? Während ich noch die wirklich ehrliche Antwort suche, hält das Auto an und fährt rückwärts. Es ist Jean.
»Ich habe dich erst im letzten Moment erkannt. Ist deine Mama zuhause?«
Auf dem Nebensitz hat er ein großes Bouquet Rosen, orange, er schenkt Mama seit Jahren orange Blumen.
Beim Nachtessen wird Jean völlig von Mama in Beschlag genommen. Zuerst redeten sie über Leute aus Stein, und jetzt reden sie über einen
Weitere Kostenlose Bücher