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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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dem Nachhauseweg. »Aber du darfst das keinem Menschen sagen, außer Papa, der ist selbstverständlich im Bild.«
    »Ist Krebs schlimm?«
    »Krebs ist das Schlimmste, was jemand haben kann.«
    »Schlimmer als ein Herzinfarkt?«
    »Viel schlimmer. Wer Krebs hat, muss sterben. Deshalb redet man ja auch nicht darüber, das ist ein absolutes Tabu, verstehst du?«
    »Warum weißt du es denn?«
    »Eigentlich wissen es die meisten, aber man gibt es nicht offen zu. Hast du gemerkt, dass sie eine Perücke trägt?«
    »Wirklich? Sie hat eine Perücke?«
    »Ja, den Krebskranken gehen alle Haare aus.«
    Ich würde auch gerne eine Perücke tragen. In der Schule reagieren die einen gar nicht, andere tuscheln; denen, die meine Dauerwellen tschent finden, glaube ich es nicht. Und ganz gemein finde ich die Reaktion von Herrn Rolli. »Haben wir uns ein wenig schön gemacht«, fragt er so spöttisch, dass einige hörbar lachen. Jetzt dauert er mich wegen seines Übernamens nicht mehr im Geringsten. Gut, dass Emil den eingeführt hat. Blöder Sitzriese, du! Dein rötlicher Bürstenschnitt sieht auch nicht besser aus als meine Dauerwelle! Und dieser altmodische Anzug! Herr Rolli trägt nichts anderes als grau, dazu seine Heilandssandalen. Wohnen tut er in Olten, während der Woche isst er mittags im
Tell
und ist Mitglied eines Abstinentenklubs. Das alles ist uns von jenen zugetragen worden, die letztes Jahr bei ihm zur Schule gegangen sind. Sie haben auch gesagt, dass er immer den schlechtesten und den besten Aufsatz vorlesen lasse. Wenigstens hat er noch keine einzige Tatze ausgeteilt, geschweige denn eine Ohrfeige. Darin zumindest unterscheidet er sich vom alten Übelhart.
    Während der Pause verschwinde ich möglichst unauffällig in die Mädchentoilette. Im Spiegel ist ein blonder Neger mit abstehenden Ohren. Machen abstehende Ohren wirklich einen dümmlichen Eindruck, wie Anton behauptet? Mit Wasser und viel Kraft ziehe ich die kleinen Locken auf der Seite in die Länge … Es nützt nichts, sie krausen sich eher noch mehr.
    »Wärst du nicht meine Schwester«, sagt Koni, »würde ich dich glatt zum Schatz nehmen mit dieser Frisur!«
    Dagegen hänselt Anton mich, wann immer er kann.
    »Pah, und du siehst sogar ohne Dauerwellen doof aus«, gebe ich zurück. Irgendeinmal werfen wir einander zuerst Kleider, dann Schuhe nach, ich renne weg, er rennt mir nach, die Treppe hinunter, und wie ich nun vor der Salontür ausrutsche und ins Hundebett falle, gibt er mir eine Ohrfeige.
    »Hört endlich auf!« Mama erscheint im Bademantel an der Schlafzimmertür, sie hält ihn vorne mit den Händen zu. »Ihr wisst doch, dass Papa nach dem Mittagessen sein Nickerchen macht!«
    »Ich hasse die einfach!«
    Damit meint Anton mich. Mama droht uns mit dem Teppichklopfer. Sie ist froh, dass auch für Anton übermorgen die Frühlingsferien zu Ende sind. Einmal mehr sagt sie: »Andere Kinder streiten nie, andere Geschwister haben einander gern!«
    »So haben andere Kinder halt andere Brüder!«
    Den Teppichklopfer fürchte ich nicht. Meine Eltern können gar nicht grob werden, nur die ordinären Leute schlagen zu.
    Auf dem Rückweg in mein Zimmer sehe ich, dass Elviras Tür einen Spalt offen ist. »Elvira?«
    »Vieni, komm herein.« Elvira sitzt, wie meistens in ihrer Zimmerstunde, auf dem Bett und stickt. Einladend klopft sie mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. Mir ist lange nicht mehr aufgefallen, dass an ihrer rechten Hand der kleine Finger fehlt. Kaum habe ich mich neben sie gesetzt, stickt sie weiter. An ihrem Ohr baumelt eine Silberblume. Im anderen Ohr erinnert nurmehr ein leeres längliches Loch an etwas, das sie irgendeinmal verloren hat. Wir haben ihr zwei neue Ohrringe geschenkt. Doch die warten im Samtkästchen auf hohe Feiertage. Mama sagt, wir sollen mit Elvira nicht über früher reden und ihr Zeit lassen. Ich würde jetzt sowieso lieber über den gemeinsten aller Brüder als über sie reden.
    »Wir haben vorhin wahnsinnig gestritten.«
    »Sì, ich habe es gehört.«
    »Du hast aber nicht verstanden, was Anton gesagt hat, er hasse mich, hat er gesagt!«
    Statt auf den Streit einzugehen und sich auf meine Seite zu schlagen, legt Elvira die Stickerei weg. Stumm hält sie ihren Arm um mich.
    »Und als ich hingefallen bin, hat er …«
    Sie unterbricht mich mit etwas, das ich nicht recht verstehe.
    »Meglio sdrucciolare coi piedi che colla lingua.«
    »Was heißt das genau?«
    »Das ist ein Sprichwort.«
    Obwohl ich mich an Elviras

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