Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
erreichen wir das Schulzimmer erst nach dem Läuten. Herr Rolli bestraft unser Zuspätkommen, indem er unseren Gruß nicht erwidert. Bevor er die Hefte verteilt, sagt er: »Ein Aufsatz ist darunter, der ist sehr speziell.«
Mein Herz hämmert wild.
»Beatrix, kommst du bitte hierher und liest deine Geschichte der Klasse vor?«
Ich kann mich überhaupt nicht aufs Zuhören konzentrieren. So, wie ich eben noch glaubte, mein Aufsatz sei der beste, bin ich nun überzeugt, dass es der schlechteste ist. Nachdem Trix fertig ist, klatscht der Lehrer zweimal in die Hände. Sein Blick geht über die Reihen – und an mir vorbei.
»Ja, Emil, würdest du nur halb so gut schreiben, wie du rechnest, könnte ich dir das Vorlesen ersparen. Komm bitte nach vorne und lies dein Geschreibsel vor, bei einer halben Seite Text wirst du dafür ja nicht lange brauchen.«
Breitbeinig stellt sich Emil vorne hin, den Aufsatz wie ein Gesangsheft auf Brusthöhe, und als er nun beginnt, ist er laut und klar. »Ich schlafe am einundzwanzigsten Juni immer aus, weil es der längste Tag im Jahr ist, und da ist der Tag ja auch nach dem Ausschlafen noch lang genug, zumindest, wenn die Sonne scheint. Wenn die Sonne nicht scheint, bleibe ich sowieso im Bett. Wenn es regnet, ist die Länge des einundzwanzigsten Juni aber ein Nachteil. Wenn man nämlich nicht mehr schlafen kann, ist es im Bett langweilig, aber was soll man sonst tun. Und dann sagen die Eltern wieder, ich sei ein Faulpelz, ein Tunichtgut und einer, der dem Teufel vom Karren gefallen ist. Deshalb bin ich froh, diese Geschichte nur erfunden zu haben. Ich bin nämlich gar kein Faulpelz, auch wenn ich nicht die vorgeschriebenen drei Seiten vollschreibe. Schließlich sagt unser Lehrer selber immer, dass in der Kürze die Würze liegt. Ich hoffe ja bloß, dass das nicht für den kommenden Sommer gilt.«
Ohne ein Kommando abzuwarten, geht Emil zurück an seinen Platz.
»Ich – ich – ich! Wie oft soll ich noch wiederholen, dass man niemals einen Satz mit
Ich
beginnen darf, geschweige denn einen Aufsatz!«
Jetzt fasst Herr Rolli mich ins Auge. »Und nun zu dir.« Mir steigt das Blut in den Kopf. Ich versuche in seinem Gesicht zu lesen, was als Nächstes kommt.
»Eure liebe Mitschülerin«, erklärt er, »will eine ganz besonders Originelle sein. Für sie ist der einundzwanzigste Juni der Winteranfang …«
Ich weiß nicht, ob die Klasse laut lacht oder ob ich das nur träume.
»Eines merk dir, wenn du schon Ausdrücke brauchst, die wohl nicht aus deinem Gärtchen stammen, so schreibe sie wenigstens richtig. Es heißt melancholisch und nicht melanchonisch. Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
»Ja, das sagt man, wenn man traurig ist. Sie, Entschuldigung, aber ich sollte schnell …«
In der Mädchentoilette halte ich meine Hände eine Zeitlang unter den kalten Wasserstrahl. Elvira macht das auch, wenn sie ihr Schulterzucken hat, das beruhigt das Herz. Der im Spiegel strecke ich die Zunge raus.
Papa kauft für sich am Bahnhofskiosk die Zeitung und für Mama die
Revue
. Oder doch nicht ganz für Mama. Er zeigt auf das Titelbild: »Gründgens, ich möchte dann den Beitrag über ihn auch lesen.«
Kaum ist der Zug entschwunden, stelle ich mir vor, wie die Eltern in Kloten in ein Flugzeug steigen, das sie unendlich weit weg trägt. Dabei ist Brüssel noch immer in Europa, wie Onkel Fred erklärt. Er ist erstaunt, dass wir nichts Näheres über die Weltausstellung wissen. Bevor er uns wieder heimbringt, dürfen wir am Kiosk eine Glacé holen. Wir schlecken sie auf einer Bank, Onkel Fred setzt sich zwischen uns.
»An dieser Weltausstellung«, beginnt er, »wird etwas gezeigt, wovon man noch in Jahrzehnten reden wird! Etwas, das man sich kaum vorstellen kann.«
»Passt auf, ich versuche, euch das so leicht wie möglich verständlich zu machen. Also. Das kleinste Teilchen, das es überhaupt gibt, nennt man Atom. In Brüssel wurde nun ein sogenanntes Atomium gebaut. Es stellt einen Kristall in hundertfünfundsechzigmilliardenfacher Vergrößerung dar.«
»Ich komme da nicht nach«, sagt Konrad.
Er spricht mir aus dem Herzen. Im Gegensatz zu ihm mache ich Onkel Fred jedoch die Freude, ganz interessiert auszusehen.
»Also …« Onkel Fred überlegt, wie er uns das komplizierte Zeug verständlich machen kann. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Dieses Atomium besteht aus neun Kugeln, und die sind durch Röhren miteinander verbunden, in die man hineingehen kann. In die oberste Kugel
Weitere Kostenlose Bücher