Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
fährt ein direkter Lift. Eure Eltern können also unten einsteigen und sind in wenigen Sekunden ganz oben – auf hundert Meter, stellt euch das mal vor, doppelt so hoch wie der Sankt Ursenturm.«
»Und deswegen sind die Eltern nach Brüssel geflogen?«
Auf Mama und Papa hat dieses komische Atom anscheinend wirklich großen Eindruck gemacht. Sie haben aber auch viele andere tolle Sachen gesehen. Noch ist Mama am erzählen, da steht Papa auf und ruft Heidi an, um sich nach Asi zu erkundigen. Dieser hatte vor Brüssel, bei Papas letztem Ausritt, ein bisschen gelahmt.
»Und wisst ihr, was in Brüssel auch noch einmalig ist«, fährt Mama fort: »Man spricht dort zwei Sprachen. Alles ist in zwei Sprachen angeschrieben, die Straßenschilder, die Speisekarten …«
»In Englisch?«
»Nein, nein. In Französisch und Niederländisch.«
»Niederländisch?«
»Wir in der Schweiz sagen auch Holländisch.«
»Aber ist das nicht gerade das Gegenteil?«
Mama muss erst mal lachen. Obwohl Papa den Hörer abgelegt und auch zugehört hat, beteiligt er sich nicht an unserem Sprachenwirrwarr. »Esst schon mal«, sagt er nur. »Ich geh schnell in den Stall.«
»In den Stall oder zu Heidi?«
Er überhört Mamas Frage.
Als wir ins Bett gehen, ist Papa noch nicht zurück.
Ein Lied für Papa
Weil diesen Sommer viele in den Ferien waren, haben wir das Sommerfest in den Herbst verschoben. Nun ist es kalt und regnerisch. »Drinnen ist alles viel komplizierter«, klagt Mama. Doch ihre Laune bleibt die beste, obwohl ihr bei den Vorarbeiten ein Fingernagel abbricht. Sie feilt ihn wieder in eine ovale Form und lackiert das Rot darauf etwas schmaler, »das lässt ihn länger erscheinen.« Koni und ich dürfen bis Mitternacht aufbleiben, bis Heidi Geburtstag hat. Die Eltern haben die Reime des bekannten Heidi-Liedes für sie abgeändert. Der Musiklehrer hat zwar etwas komisch geschaut, als ich mit dem Text daherkam. Aber er hat mir dann das Lied samt Refrain beigebracht, den sollten alle mitsingen.
Nach dem Gläserklingen zum
Happy Birthday
holt mich Mama in den Salon. Ich hänge die Gitarre um, kontrolliere unauffällig die Töne der Saiten und beginne zu singen: »Heidi, Heidi, deine Welt ist der Asi, denn da oben bist du zu Haus. Sattel, Pferd, Grüne Wiesen im Sonnenschein, Heidi, Heidi, brauchst du zum Glücklichsein. Heidi, Heidi, auf dem Pferd finde dein Glück, und komm immer zurück …«
Die Gäste klatschen. Begeistert schließt mich Heidi in die Arme. Papa klingelt mit einer Gabel an sein Glas. Als es ruhiger ist, zwinkert er mir aufmunternd zu.
»Das singe ich nun für meinen Papa! Dieses Dirndlkleid passt zwar nicht zum Lied, aber ihr müsst euch halt einfach einen Cowboy vorstellen.«
Wieder applaudieren sie.
»Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand, und ein Sattel liegt gleich nebenan. Fragt ihr mich, warum ich traurig bin, ich schau auf zum Pferdehalfter hin …«
Noch ist die Gitarre nicht ganz ausgeklungen, ruft Tanta Isabella, »und jetzt etwas Lustiges!«
»Das Leben ist nicht lustig«, grölt Onkel Hardis Stimme von weit hinten. Er hat wieder ein rotes Gesicht. Aber auch Papa hat schon seine Locke in der Stirn. Tanta Isabella drängt sich zwischen den Tischen durch zum Plattenspieler. Sie legt eine Schallplatte auf, die hat sie selber mitgebracht.
»Stägeli uf, Stägeli ab juhe …«
Das Juhe singt sie mit, bis alle einstimmen. Auch Tanta Iris singt mit. Sie denkt heute hoffentlich nicht an den verstorbenen Onkel Valentin, Mama hat extra Onkel Fred neben sie gesetzt. Leider ist auf der anderen Seite Onkel Hardis Frau. Diese Trudi mit ihrer gestreckten Haut meint, sie sei die Beste. Allen Männern macht sie schöne Augen, und Onkel Fred ganz besonders. Mir wäre lieber, sie wäre hinter Doktor Amacher her. Aber der ist am liebsten in der Nähe von Mama. Rechts von ihr sitzt Lisetta, und zwar neben Onkel Raoul. Vielleicht ist Onkel Linard ein bisschen eifersüchtig. Beim Gutnachtsagen flüstert er mir jedenfalls zu, Koni und ich sollen noch einen Moment am Fest bleiben, er wolle etwas Wichtiges über sich und Lis verkünden, »ganz offiziell«. Papa muss wieder mit der Gabel am Glas für Ruhe sorgen.
»Liebe verehrte Gastgeber, liebe Freunde und Bekannte! Hier, dieses wunderschöne Wesen«, – er nickt Lisetta zu – , »diese junge hübsche Frau ist seit dem letzten Gartenfest, das wir hier im Miramon zusammen feiern konnten, nicht nur meine Gemahlin geworden, sondern, was einige unter euch noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher