Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
wissen können, sie hat mir auch eine Tochter geschenkt, unsere kleine Prinzessin Manuela Martha.«
Einige Frauen stehen auf, um Lisetta zu umarmen, die Männer stoßen aus der Ferne auf das junge Glück an. Papa schlägt Onkel Linard freundschaftlich auf den Rücken.
»Ein Glanzstück deiner Rhetorik war das nicht gerade«, neckt er ihn, »du musst deine Brillanz jetzt wohl andernorts unter Beweis stellen!«
Im Bett überkommt mich wieder die tiefe Lust, etwas für das schöne Gefühl zu tun. Aber ich will nichts mehr machen, was nicht ganz normal ist. Um mich abzuhärten, stelle ich mich ans offene Fenster, bis ich fröstle.
VIII
Statt der versprochenen Fragestunde erzählt uns der Vikar, aus welchen Verhältnissen der neue Papst kommt und wie er aufgewachsen ist. Ein Bub will wissen, woher seine Eltern denn das Geld für sein Studium hatten, wenn sie doch nur arme Bauern waren.
»Früher hat die Kirche oft den Gescheitesten aus einer vielköpfigen Familie unterstützt, damit er Priester werden konnte. Johannes der Dreiundzwanzigste ist eben schon als Kind durch seine Intelligenz und Integrität aufgefallen.«
Da der Vikar, der beim Reden gerne langsam durch die Reihen schreitet, gerade auf meiner Höhe ist, muss ich meine Frage nicht allzu laut stellen. »Was ist Integrität?«
Er geht zurück ans Pult, wendet sich uns und insbesondere mir zu: »Integrität bedeutet, dass jemand rechtschaffen, vertrauenswürdig, unbestechlich und unbescholten ist, kurz gesagt, dass er alle guten Eigenschaften in sich vereinigt.«
»Kann nur ein Papst so integritär sein?«
Obwohl ich, ohne den Finger zu heben, dreingeschwatzt habe, gibt der Vikar eine freundliche Antwort. »Integer heißt das Wort. Nein, nicht nur, aber in besonderem Maße. Gott weiß schon bei der Geburt eines Kindes, dass es einmal in Rom sein Stellvertreter sein wird. Deshalb gibt er ihm den besten Charakter der Welt.«
»Und die, die mit einem schlechten Charakter zur Welt kommen, haben sie den denn auch von Gott?«
»Du und auch ihr anderen, ihr könnt euch alle Fragen für die Fragestunde merken, nun aber« – der Vikar schaut auf die Uhr – »ist unsere Zeit um. Erhebt euch zum Schlussgebet.«
Vor dem Schulhaus muss ich meine Freundinnen mit einer Notlüge loswerden: »Meine Mutter holt mich ab.« Als der Vikar auf der Treppe des Ausgangs erscheint, stelle ich mich vor ihn hin. »Darf ich Sie ein Stück begleiten, weil, es ist so, ich habe noch ein paar Fragen.«
»Aber sicher. Du darfst sogar rechts von mir gehen, wie es sich für kleine Damen gehört.«
»Danke, aber mir ist es links wohler.«
»Wie du willst. Was beschäftigt uns denn?«
»Wenn jemand Selbstmord macht, kommt er dann nie in den Himmel?«
»Selbstmord ist ein Mord wie jeder andere Mord auch. Wie du weißt, ist das eine Todsünde. Ja, und wenn jemand in der Todsünde stirbt …«
»Kommt er ins Fegfeuer, aber sicher nicht für immer in die Hölle, oder? Oder wenigstens in einen Vorhimmel wie die Bébés, die ungetauft sterben?«
»Ja, das kann durchaus sein. Gottes Gnade ist unermesslich, wie du weißt.«
»Ich habe noch niemand, der schon im Himmel ist.«
»Das stimmt ganz sicher nicht. Ich bin überzeugt, alle deine Vorfahren warten im Himmel auf dich. Freudig warten sie auf dich.«
Da ich nichts mehr sage, bleibt der Vikar stehen. »Keine weiteren Fragen, kleines Fräulein?«
»Nein, danke. Ich muss jetzt gehen. Danke nochmals.«
Ich hätte schon noch eine Frage gehabt. Die wegen Blitz. Da hat uns aber ein Mann mit einem Hund gekreuzt, und mir ist plötzlich durch den Kopf geschoßen, dass Pfarrer oder Vikare nie Hunde haben, weil sie nicht an die Seele der Tiere glauben dürfen. Papa und ich glauben aber daran. Für mich ist Blitz im Himmel, und dort soll er auch bleiben.
Diese blöden Regensonntage, warum kann es nicht endlich schneien! Mama liest, Papa räumt im Herrenzimmer sein Pult auf, und Koni und ich sollen zusammen das Hütchenspiel machen.
»Ich finde dieses Hütleinzeug kindisch.«
»Aber du bist doch noch ein Kind«, sagt Mama, »zudem kannst du ruhig einmal etwas deinem kleinen Bruder zuliebe tun.«
»Spielst du mit uns?«
»Nein, du siehst ja, dass ich lese.«
»Was ist das für ein Buch?«
»Bonjour Tristesse.«
»Liest du uns ein bisschen daraus vor?«
»Oh nein, das ist wirklich nichts für euch.«
»Warum nicht?«
»Einfach so, weil’s eben nichts für euch ist.«
»Erzählst du uns dafür das Theater von gestern?«
»Da kommt
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