Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Schultern. Und plötzlich beschämt mich meine Frage. Ich möchte Elvira sagen, »du hast ja uns, wir sind deine Familie.« Da schaut sie mich mit einem Lächeln an, das meinen Gedanken zu teilen scheint.
Eine Contessa und eine Braut Jesu
Von der oberen Klasse ist das Gerücht zu uns gedrungen: Eine Clique um Rosi lässt bei den Altpapiersammlungen Schundheftchen mitgehen, die lesen sie dann und tauschen sie untereinander aus. Heute scheint es wieder so weit zu sein. Rosi verschwindet mit zwei Mädchen im Schlepptau in der Toilette. Gerda und ich gehen ihnen nach. Für einen Liebesroman wollen sie fünfzig Rappen. Auswählen dürfen wir zwischen drei. Gerda und ich können uns nicht sofort entscheiden. Das Mädchen, das alle nur Schiellise nennen, wirft uns schließlich
Die Gräfin aus Sizilien
zu. Auf dem Umschlag küsst ein Mann in einem Stallhemd eine hübsch gekleidete Frau mit toupiertem Haar.
Auf dem Heimweg entdeckt Gerda einen handgeschriebenen Eintrag. »Hör mal, was hier steht.« Sie kichert. »Sesam öffne dich, der Mann mit dem Regenschirm will hinein.«
Gerda sieht mich begeistert an. »Morgen komme ich zu dir, und dann suchen wir uns die interessanten Stellen heraus.«
»Nein, ich schaue nach dem Blauring lieber bei dir rein.«
Es dunkelt, als ich bei Gerda eintreffe. Sie zieht mich in den Lagerraum ihres Vaters. Zwischen Sandsäcken und Leitern machen wir es uns einigermaßen gemütlich. Gerda hat bei einzelnen Seiten Eselsohren gemacht.
»Also«, sagt sie, »hör zu, was sich diese Contessa traut … Nein, warte, hier ist es noch besser:
Die Contessa zog Giovanni in die Sattelkammer, in der im Dämmerlicht nur noch die Umrisse seines athletischen Körpers zu sehen waren. Während er zögerte, aus Angst, der Graf könnte hereinkommen, um nach seinem Pferd zu sehen, hielt die Gräfin bereits ihre Hände um seinen Hals. Küss mich, flüsterte sie. Aber Signora, Contessa, ich … Mehr konnte Giovanni nicht sagen. Die Contessa presste ihre Lippen auf die seinen, worauf er seine starken Arme um sie schlang und sie an sich drückte. Ich möchte dich nie mehr hergeben, hauchte er ihr ins Ohr.«
Gerda schaut auf. Sie will wissen, weshalb ich so unruhig bin.
»Ich habe Bauchweh, schon im Blauring habe ich es gespürt, aber jetzt tut es richtig weh!«
Wieder bringt mir Mama Kamillentee ans Bett und massiert meinen Bauch. »In zwei Stunden wird es hell.« Bis dann soll ich schlafen, »damit du morgen wieder gesund bist.«
Am Morgen ist mein Bauchweh so schlimm, dass die Eltern und Koni ohne mich nach Stans zu Anton fahren. Elvira verzichtet auf die Sonntagsmesse. Sie wickelt mich in feuchtwarme Tücher ein. Später legt sie mir ein Leinensäcklein mit Eiswürfeln auf den Bauch. Sie bleibt stumm auf meinem Bett sitzen und hält mir die Hand, »mia cara bimba. Bevi!« Ich soll noch einen Schluck Tee nehmen. Alles nützt nichts.
»Non ne posso più, ich weiß weder ein noch aus!«
Elvira bringt mir Mamas Agenda mit den Telefonnummern. Ich zeige auf Onkel Freds Nummer. Aber Onkel Fred versteht Elviras Italienisch nicht. Ich höre, wie sie immer lauter meinen Namen wiederholt.
Während Onkel Fred mich in die Klinik fährt, weine ich. »In diesem Gebäude ist unser Rosmarieli gestorben …«
»Aber du stirbst nicht«, versichert mir Onkel Fred, bevor ich in den Operationssaal gebracht werde.
Als ich in einem fremden Zimmer aufwache, sind meine Eltern da. Sie sind stolz auf »ischi groß Meitjia«, sie sagen das schon das zweite Mal. Vor ihrer Reise nach Rom werden sie mich nach Naters bringen. »Bei Großpapa kannst du dich am besten erholen.«
»Ist es schlimm, ohne Blinddarm zu sein?«
»Äch wa!« Papa lacht. »Man weiß nicht einmal, wozu der da ist, es ist ja nicht der eigentliche Darm, nur ein Fortsatz, etwa so groß wie dein kleiner Finger.«
Kaum sind die Eltern und Koni weg, ist das Krankenzimmer klein und düster. Die Schwester legt mir eine Schüssel unter den Hintern. Sie lässt im Lavabo das Wasser laufen, damit mein Pipi endlich kommt. »Wasser lösen«, sagt sie dazu. Nun ahne ich, was Papa meint, wenn er behauptet, gewisse Menschen seien »zeitlos«. Diese Schwester ist so. Gunhilde heißt sie, Schwester Gunhilde. Und so alt, wie der Name klingt, bewegt sie sich auch. Langsamer als Großmama, dafür mit größeren Schritten; wenn sie mit ihren Holzschuhen mein Zimmer verlässt, höre ich ihre langen Tritte im Korridor aushallen. Sie sagt immer die gleichen Sätze. Ihre Stimme tönt,
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