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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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als wäre sie schon ganz abgenutzt. Wenn sie mir allerdings die Spritzen geben muss, sagt sie gar nichts. Sie schlägt die Decke zurück, zieht mein Spitalhemd hoch und tastet mit ihrer flachen Hand den geeigneten Punkt zum Stechen ab. Kurz streicht sie mir übers Haar. Das steife weiße Häubchen macht ihr einen schönen Hinterkopf. Es fällt nie herunter, dabei ist keine einzige Haarnadel zu sehen. Ich wüsste gerne, ob sie siebzig oder dreißig ist. Aber man darf eine Frau ja nicht nach ihrem Alter fragen.
    »Haben Sie auch Kinder?«
    »Nein, meine Liebe, Ordensschwestern haben keine Kinder.«
    »Ah ja, ihr dürft gar nicht heiraten, nicht wahr. Aber warum tragen Sie dann gleichwohl einen Ehering?«
    »Ich bin Jesus’Braut.«
    »Wäre ich eine Klosterfrau, dann hätte ich auch am liebsten Jesus zum Mann. Der ist doch viel jünger als Gott, und vom Heiligen Geist gibt es ja nicht einmal Bilder.«
    Sie blickt mich verwundert an, und ich rufe aus Angst vor der Spritze: »He, Sie, halt!«
    »Schon haben wir es überstanden.« Schwester Gunhilde geht ans Lavabo, dort wäscht sie sich die Hände. Danach sagt sie wie stets: »So.«
    Bevor wir ins Wallis fahren, bringen mir meine Freundinnen das Schulzeug. Aus dem Rechnungsbuch muss ich zwei Seiten komplizierte Geteilt- und eine Seite Mal-Rechnungen lösen. Zudem hat Herr Übelhart im Lesebuch ein Gedicht angekreuzt.
    »Dieser
Erlkönig
? Der hat ja acht Strophen!«
    »Beklag dich nicht«, sagen Antonetta und Margrit gleichzeitig. Sie müssen zusätzlich zwei andere Gedichte auswendig lernen, da nächste Woche der Inspektor kommt. Kläri überreicht mir einen Sack Dörrobst, »das ist von uns allen.« Sie wollen meine Wunde sehen.
    »Das geht nicht, darüber ist noch ein Verband. Jedenfalls ist die Naht etwa so lang wie meine ganze Hand.«
    Sie staunen, und ich ziehe die Bettdecke bis unters Kinn hoch, um zu zeigen, wie krank ich noch bin. Als sie aufbrechen, flüstere ich Gerda zu, dass ich mit dieser
Contessa
nichts mehr zu tun haben will. Sie blickt mich verdutzt an.
    Die Eltern denken, dass ich die Reise ins Wallis liegend besser überstehe. Mama bettet mich in den Fond: Papas Kissen mit der Autonummer unter den Kopf, die Reisedecke auf die Füße, am Boden hinter der Rückenlehne die Thermosflasche mit Tee. Noch sind wir nicht einmal in Biberist, da dreht sich Mama schon nach hinten, um mich besser zuzudecken.
    »Wenn du so weiterwächst, hast du im vw bald keinen Platz mehr«, scherzt sie.
    »Macht nichts«, sagt Papa in einem Ton, der verräterisch klingt.
    »Ha, ich hab’s! Das also ist das Geheimnis, das ihr mit Heidi besprochen habt: Wir kaufen den Peugeot, von dem du die Prospekte heimgebracht hast, gell?«
    »Das auch, aber das ist nicht alles.«
    Die noch größere Neuigkeit erfahre ich erst, nachdem ich etwas geschlafen habe: Papa kauft ein Pferd! Vor Freude würde ich am liebsten in die Luft springen – wäre da nicht die Narbe. Sie darf auf keinen Fall reißen, das kann schlimme Komplikationen geben.
    »Heute und morgen werden wir noch kein eigenes Pferd haben«, erklärt Papa. »Es ist schließlich eine Frage des Geldes, jetzt wo ich nurmehr halbtags arbeite. Vorerst geht Heidi mal in die Ferien, und ich werde in diesen drei Wochen täglich ihren Asi reiten und sehen, ob mir die Reiterei wirklich noch so zusagt wie früher.«
    »Bist du früher viel geritten?«
    »Ja, im Militär.«
    Mama greift an Papas Nacken, »jaja, Schpazzji, toll hast du ausgesehen in deiner Uniform mit den schwarzen Stiefeln.« Im Abendverkehr von Sitten geraten wir in einen Stau. Papa geht die Geduld aus, er hupt. Im letzten Augenblick lässt er den, der an der Kreuzung an uns vorbeidrängelt, durch. »Unerwalliserpiffel!«, ruft er zornig.
    Beinahe wären wir zusammengestoßen. Mama atmet hörbar auf. Sie bittet Papa, den Rest der Fahrt gemütlicher anzugehen.
    »Du, Papa, können wir das gleiche Pferd kaufen, das Tschoi hat?«
    »Wer ist Tschoi?«
    »Der Waisenbub im Fiuri-Film, der kann mit seinem Pferd reden, es versteht …«
    »Wenn man mit einem Pferd eins ist, kann man mit jedem Pferd reden.«
Frauen und Kühe gehören in den Stall
    In Naters sind die Verwandten etwas enttäuscht, dass meine Eltern schon am nächsten Tag weiterreisen. Die Tanten und ich begleiten sie zum Bahnhof.
    »Ihr seid die Letzten«, ruft uns jemand fröhlich entgegen. Alle duzen sich. Onkel Arthur erscheint »nur für eine Minute« auf dem Perron, er hat Grenzdienst, und heute kommen viele

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