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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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doch jetzt dreht er sich nochmals um. Mit einer Stimme, die mir fremd ist, beginnt er mit dem
Erlkönig
. Bei der zweiten Strophe legt er den Arztkoffer auf den Boden. Nun hat er beide Hände frei und gestikuliert wie ein Schauspieler. Zum ersten Mal sehe ich, dass er den linken Arm wirklich nicht genau gleich bewegen kann wie den rechten. Das ist von früher, vom Zweiten Weltkrieg. Onkel Arthur ist als Arzt an der finnischen Grenze gewesen, und dort ist etwas passiert. Aber darüber wissen nicht einmal Mama und Papa Näheres.
    »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön. Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, und wiegen und tanzen und singen dich ein
…« So eindrücklich spricht er die Verse, dass ich am Ende meine, es sei Onkel Arthur selbst, der mit Mühe und Not den Hof erreicht, und obwohl er den Knaben so fest hält und lieb – »
in seinen Armen das Kind war tot

    Ob ich jetzt Danke sagen soll?
    »Wenn du groß bist, musst du den ganzen Goethe lesen, das gehört zur Bildung.«
    Zum Nachtessen erscheint Großpapa nicht. Bethli bringt ihm auf einem Tablar Zwieback und Tee ans Bett. Onkel Arthur hat die Anweisungen dazu gegeben. Großpapa hat eine Grippe, sagt er. Ohne Großpapa ist es bei Tisch anders. Wie anders, weiß ich nicht. Jedenfalls haben Helen und Bethli mit ihrem Bruder noch nie so geredet. Und er mit ihnen auch nicht.
    »
Frauen im Laufgitter
, pah! Wer nicht selber laufen lernt, ist selber Schuld …«
    »Du hast es ja nicht einmal fertiggelesen!«
    »Jedenfalls genug, um mir ein Urteil zu bilden. Übrigens, ein Patient von mir, ein Großrat, hat mir eine köstliche Anekdote erzählt. Offenbar hat die Von Roten an einem politischen Anlass ihres Mannes teilgenommen. Als sie dem älteren Großrat vorgestellt wurde, sagte der – wörtlich! – zu ihr: Warum kämpfen Sie bloß gegen die Natur an! Ein Stier ist ein Stier und eine Kuh bleibt eine Kuh, sie gehört in Gottes Namen zäm Mälku und Chalberu inä Stall.«
    Onkel Arthur lacht ganz alleine. Bethlis Antwort tönt ziemlich wütend. »Da haben wir wieder mal den Beweis, was für verknöcherte Patriarchen, was für unverschämte Frauenhasser wir in der Politik haben. Saupack! Wart nur ab, bis wir endlich das Frauenstimmrecht haben!«
    Helen mahnt zur Ruhe. »He, he, der Papa kann euch hören. Bitte.«
    Sie neigt sich zu mir. »Du wirst es besser haben als Bethli und ich. Du kannst wie deine Brüder ins Gymnasium gehen und danach studieren. Lass dich durch nichts und niemanden davon abhalten, gell.«
    Nachdem wir mit der Küche fertig sind, ziehen sich Bethli und Helen für das Kino um. Ein Film mit Clark Gable. Ich weiß, wie er aussieht, der gefällt Mama nämlich. Der Film dauert über drei Stunden, sagen sie. Ich verspreche, leise zu sein und überall das Licht zu löschen.
    Onkel Arthur hat sich in sein Zimmer zurückgezogen. Wenn er dichtet, darf ihn niemand stören. An Großpapas Tür gehe ich auf Zehenspitzen vorbei. Ich mache Sirus Zeichen, mit mir zu kommen, aber der rührt sich nicht vom Fleck. Nicht einmal mit Brot kann ich Großpapas neuen Hund von der Türschwelle weglocken.
    Die Leintücher sind kalt, ich igle mich unter der Bettdecke ein und habe Heimweh. Wäre wenigstens Tosca bei mir! In der Dunkelheit ist alles nur noch groß und unheimlich und noch trauriger als bei Tag. Ich horche, ob ich irgendetwas hören kann. Es ist stiller, als ich dachte, dass Stille sein kann. Vielleicht haben alle, die aus solchen Wohnungen kommen, Herzweh? Lieber Gott, lass den Papst an Papa ein Wunder wirken und seinen Herzinfarkt wegmachen! Es gelingt mir einfach nicht, mir Papa im Petersdom vorzustellen. Immer reitet er auf einem Pferd durch Erlkönigs Wald … Nein, Goethe werde ich später nicht lesen, wenn der so grausiges Zeug dichtet.
Der Tod macht jedes Glück zunichte
    Als wir die Eltern abholen, nimmt Mama gleich auf dem Bahnhof etwas aus einer roten Handtasche.
    »Hast du eine neue Tasche?«
    »Jaja. In Italien ist Leder billig. Aber schau lieber auf das Bild, da sind Papa und ich mit dem Papst drauf!«
    Auf dem Foto legt Papst Johannes der Dreiundzwanzigste der Frau neben Mama die Hand auf den Kopf.
    »Fast hätte es auch mich treffen können«, schwärmt Mama.
    Ich bin froh, dass wir gleich aufbrechen. Im Auto müssen mir die Eltern alles erzählen von Rom und vom Petersdom, vom Hotel, in dem sie gegessen haben, und ob das mit dem Trevibrunnen stimmt. Hundert Lire hat Mama hineingeworfen!

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