Das Leben der Wünsche
Anzeige für die Waschanlage ließ er links liegen. Endlich las er: Innenstadt: Schwerverletzter, Fahrerflucht. Der Verunglückte, dreiundzwanzig Jahre alt, war schwer verletzt, würde jedoch aller Voraussicht nach durchkommen. Vom Lastwagenfahrer keine Spur.
Ja! Und er war es, der angerufen hatte!
Hektor setzte sich mit einer Flasche Wodka zu ihm. Jonas bekam einen Plastikbecher, undHektors Freundin fragte ihn, woran er arbeite. Am Zeitverlust, sagte Jonas. Hektors Freundin nickte. Sie und Hektor begannen über seinen Kopf hinweg zu streiten, es ging um eine verlorene oder verborgte Uhr. Spontan tippte Jonas in den Computer, was ihm einfiel: Kräftig und fair! Waschanlage Zapata! Hier bleibt kein Scheinwerfer trocken! Eine Minute darauf, ohne es noch einmal durchzulesen, schickte er das ganze Paket an Severin ab.
Nachdem Hektor und seine Freundin schreiend im Lift verschwunden waren, drehte sich Jonas mit seinem Stuhl und lauschte dem Klappern der Tastaturen, den Gesprächen, dem Summen der Klimaanlage. Als er einen Fleck auf seiner neuen Hose entdeckte, fiel ihm Anne ein.
Er begann das Web nach neuen Informationen über Leberkrebs zu durchsuchen, nach neuen Namen von Ärzten, nach irgendeinem Hoffnungsschimmer, eine Arbeit, die er regelmäßig unternahm und von der sie nichts wissen sollte. In einem Blog fand er einen Artikel über eine Therapie, die in ein paar Jahren getestet werden würde. Das kam für Anne zu spät.
12
Die Sonne sank in kupfernem Rot über die bewaldeten Berge im Westen der Stadt. Jonas drückte die Knöpfe, und alle vier Fensterscheiben glitten lautlos hinunter. Warmer, staubiger Wind wehte den Geruch blühender Sträucher herein.
Er rief Helen an. Sie erzählte ihm von ihrem Tag, von den Rosenbädern und den Gesichtsmassagen, dann fragte sie nach den Kindern.
Alles gut. Irina ist bei ihnen.
Hast du ihr gesagt, dass sie in der Wohnung nicht rauchen darf?
Das weiß sie sowieso. Ich habe ihr auch Alkohol und Geschlechtsverkehr verboten, aber wenn sie will, tut sie es, ob es uns passt oder nicht.
Du hast ihr Geschlechtsverkehr verboten?
Na sicher. Sie ist siebzehn, das hat ihr gefallen. Und wegen ein paar Zigaretten werde ich mich nicht mit unserem Babysitter zerstreiten, wir sind von ihr abhängig.
Stimmt, sagte Helen. Wenn die wüssten, wie abhängig Eltern von ihnen sind!
Ich sitze im Auto. Darf ich später noch einmal anrufen?
Schlaf gut.
Während er an einer Kreuzung wartete, tippte er in sein Handy:
Morgen?
Kann jetzt nicht – melde mich später.
Während der hypnotisierend bedächtigen Fahrt durch halb leere Straßen, die Hitparade aus dem Autoradio leise im Hintergrund, verschlug es ihn an den Stadtrand. Er hielt an einem abgeschiedenen Parkplatz, an dem Marie und er einmal in ihrer triebhaften Verzweiflung gelandet waren, als es im Ensemble kein freies Zimmer gab. Er rief sich die Bilder in Erinnerung. Wie schön und verwegen und verrückt es gewesen war, hier miteinander zu liegen, in ständiger Furcht, entdeckt zu werden.
Er stieg aus. Unter seinen Schuhen staubte Kies auf. Vorne an der Brüstung verschränkte er die Arme und sah auf die Stadt hinunter. Es dämmerte. Weit unter ihm strahlten Lichter auf, von Minute zu Minute mehr.
Er blickte sich um. Er war allein. Gelegentlich fuhr ein Auto vorbei. Es roch nach Gras und nach Regen. In den Trauerweiden hingen zahllose Misteln, die aussahen wie Vogelnester. Die Luft hatte merklich abgekühlt.
Hallo? rief er.
In einiger Entfernung hupte jemand, darauf war wieder alles still.
Ist jemand hier?
Wind, der die Trauerweiden bog und ihre Blätter rauschend schüttelte. Das warme Blech des Autodachs unter seinen Händen war mit Vogelexkrementen übersät.
Hallo?
Er ging wieder vor zur Brüstung, von der aus Verliebte gern auf die Stadt hinunterschauten und von der aus der eine oder andere, bei dem sich die Dinge nicht gut entwickelt hatten, seiner Enttäuschung mit einem Sprung ein Ende gemacht hatte. Er setzte sich auf die rostige Querstange, den Abgrund im Rücken. Um ihn Brennnesseln, Disteln, Sträucher. Ein überquellender Mülleimer, gebrauchte Taschentücher, eine verwitterte Zeitschrift, über der eine Flüssigkeit ausgelaufen war. Eine Orientierungstafel für Wanderer. Hölzerne Richtungspfeile, geschrieben in Frakturschrift. Ameisen auf Beton. Staub, der in einer kleinen Windhose über den Parkplatz getrieben wurde.
Jonas ging weiter, schaute in alle Richtungen.
Da, wo er vor ein paar Sekunden gesessen
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