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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ist nicht deine Art, so etwas einfach hinzunehmen. Wirst du ihn treffen? Ihn ausfragen?
    Ich weiß bereits alles, was ich von ihm wissen will. Mich würde mehr interessieren, was sie sich dachte. Sie hat mich betrogen. Sie hat sich zwei- oder dreimal die Woche mit einem anderen getroffen, und dann ist sie mit den Jungen auf den Spielplatz gegangen.
    Willst du dich darüber etwa moralisch entrüsten?
    Ich frage mich nur, ob man eigentlich die Menschen kennt, mit denen man unter einem Dach lebt!
    Alle unsere Freunde gehen fremd. Ab und zu. Jeder, mit dem wir darüber reden, mit dem wir vertraut genugsind für ein ehrliches Wort, gibt es zu, und wir staunen und finden diese Information spannend, sie betrifft uns so, wie uns aufregende Nachrichten im Fernsehen betreffen. Und dann gehen wir nach Hause zu unseren treuen Partnern.
    Mag ja alles sein, aber ich zum Beispiel hatte nie etwas mit einer anderen, während du und ich zusammen waren.
    Behauptest du.
    Ich schwöre es!
    Ich will es ohnehin nicht wissen.
    Es ist aber wahr!
    Neben ihnen stießen beinahe zwei Radfahrer zusammen. Der Ältere schimpfte laut, der andere, ein Fahrradkurier, fuhr wortlos weiter. Jonas sah ihm nach und fühlte unbestimmten Ärger. Anne drückte den Beutel ihres Tees aus und rührte um, ohne Jonas anzusehen. Er fixierte einen Punkt zwischen ihren Augen. Sein Handy läutete. Es war nicht Maries Ton, er schaltete den Anruf weg und konzentrierte sich wieder auf den Punkt zwischen Annes Augen.
    Und du? fragte er.
    Was ist mit mir?
    Warst du mir treu?
    Du willst es wirklich wissen?
    Du kannst mich nicht schockieren, sagte er schnell.
    Ich war dir treu, sagte sie.
    Sag mir die Wahrheit!
    Sie schob die Sonnenbrille hoch und sah ihm in die Augen. Ich war dir treu, sagte sie fest.
    Hatte ich mir auch gedacht, sagte er.
    Und warum fragst du dann so blöd?
    Während Anne in ihrer Tasche nach ihrem läutendenHandy suchte, betrachtete er sie unauffällig von Kopf bis Fuß. Ihn schockierte, wie dünn nicht nur sie, sondern auch ihre Haut geworden war. Als er ihr mit geschlossenen Augen beim Telefonieren zuhörte, merkte er, dass es selbst ihre Stimme betraf, selbst sie war dünner geworden. Als würde Anne langsam verschwinden. Er umfasste die Tischplatte und drückte, bis seine Nägel weiß wurden.
    Was machst du für ein Gesicht?
    Zahnschmerzen. Habe mir heute einen Zahn ausgebissen. Keine Ahnung, wie ich das angestellt habe, es war irgendetwas im Essen. Deswegen muss ich jetzt auch los.
    Alles Gute! Einen Zahn zu verlieren ist wie ein kleiner Tod.
    Sprich mir nur Mut zu.
    Er küsste sie auf die Wangen, legte Geld auf den Tisch und nahm seine Jacke.
    Jonas?
    Ja?
    Einmal.

4
    Er war Hektor einen Gefallen schuldig und konnte nicht Nein sagen, als dieser ihm einen Auftrag weitergab und bat, einen Schuhkatalog so schnell wie möglich auszutexten, er sei damit im Verzug, müsse sich jetzt aber um ein Möbelgeschäft kümmern. Zwei volle Tage und einen Vormittag quälte sich Jonas mit den Produktuntertiteln – vom Hausschuh Minnie Maus bis zum Bergschuh Gipfelkönig –, ohne Marie zu sehen oder am Abend etwas zu unternehmen, und das vor der Kulisse der Geburtstagsfeier eines Kollegen, die sich über mehrere Tage erstreckte und derentwegen im Büro noch mehr gewütet wurde als üblich. Am dritten Tag musste Jonas eine Viertelstunde vor der Toilette warten, bis Giovanni und Hektors Freundin herauskamen und mit scheuen Blicken zum Waschbecken liefen. Darauf arbeitete er im Park weiter, von Joggern und spielenden Kindern umgeben, bis auch der letzte Schuh einen Namen hatte. Dort erreichte ihn Annes Anruf.
    Die Tankstellenräuber! Tot!
    Woher weißt du das?
    Aus den Nachrichten natürlich! Usbeken waren es! Lies selbst nach, es gab einen Schusswechsel mit der Polizei, man ist sich ganz sicher, dass sie es waren!
    Er fand die Nachricht sofort, es wurde groß berichtet. Jonas überflog den Artikel nur. Er lehnte sich auf der Bank zurück und erinnerte sich. Er sah das unversehrte Gesicht des Tankwarts, er sah das Loch aufklaffen. Er sah sich mitdem Tankwart reden, sie hatten nur ein paar Worte gewechselt, doch er hatte die Szene deutlich vor Augen, und er hörte noch die Stimme des Mannes, der fünf Minuten darauf nicht mehr am Leben war.

5
    Die Kinder waren schnell eingeschlafen. Lea saß im Wohnzimmer, augenscheinlich hatte sie etwas auf dem Herzen. Jonas las in der Küche Zeitung. Als Lea mit der Informationsbroschüre einer Grundschule hereinkam, tat Jonas so,

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