Das Leben der Wünsche
gemacht, die keiner außer ihm komisch fand, aber jemanden in den Wald zu locken und ohne Benzin liegen zu lassen war auch ihm nicht zuzutrauen. Und da war noch etwas anderes.
Etwas anderes, da war noch etwas anderes.
Jonas stieg hart auf die Bremse und setzte zurück. Es war finster, der Weg schmal, hier rückwärtszufahren alles andere als einfach. Ab und zu polterte es unter dem Bodenblech. Guys Wagen sah er nicht mehr. Plötzlich juckte ihn die Stirn. Es juckte auf eine seltsame, entwürdigende Art, er konnte es sich nicht erklären.
Er rief sich die Sekunden an der Tankstelle in Erinnerung. Genau hatte er Guy nicht erkannt. Warum? Weil Guy kein Gesicht gehabt hatte.
Jonas warf einen Blick auf die Tankanzeige. Absolut null. Ob er es schaffte, aus diesem Wald hinauszukommen? Danach ging es bergab, und mit etwas Glück würde es ihm gelingen, zu einer Tankstelle zu rollen. Aber wenn nicht? Hatte er eine Taschenlampe dabei? Nein. Oder doch? Nein. Sein Handy? Lag zu Hause auf dem Nachttisch.
Kein Gesicht. Vorhin hatte Jonas daran nichts ungewöhnlich gefunden, denn es war dunkel gewesen. Nun jedoch wurde ihm bewusst, dass er alles ringsum genau gesehen hatte, einer Straßenlaterne wegen, die direkt neben dem schwarzen Wagen geleuchtet hatte.
Es krachte. Jonas wurde im Sitz vor- und zurückgeschleudert. Sein Kopf schlug gegen die Nackenstütze. Der Wagen stand still, der Motor starb ab. Es roch nach Öl und Gummi.
Reflexartig wollte er aussteigen, doch die Tür klemmte. In wachsender Aufregung bemühte er sich, den Motor wieder zu starten, doch entweder war beim Aufprall gegen den Baum ein Teil der Elektrik beschädigt worden oder der Tank endgültig leer. Die Scheinwerfer schaltete er aus, um nicht gesehen zu werden. Er suchte das Handy. Es war tatsächlich nicht da.
Er senkte die Seitenscheibe und glitt aus dem Auto, ohne ein Geräusch zu machen. Es war stockfinster, nicht ein einziger Stern war zu sehen. Drückend roch es nach Wald und Nacht. Keinen Laut hörte er, weder von Tieren noch von Insekten. Er fühlte nichts als seine Angst und den demütigenden Juckreiz im Gesicht, eine Empfindung ähnlich jener vor Jahren, als er nach dem Urlaub die Wohnung von Dieben ausgeräumt vorgefunden hatte. Dass die Wertsachen weg waren, hatte ihn nicht so getroffen. Dass jemand, ein Fremder, mit böser Absicht in seine Existenz eingedrungen war, dafür hatte er sich wochenlang geschämt.
Aber was hat das Jucken damit zu tun, dachte es leise in seinem Kopf, dieses elende Jucken, als wäre er in ein Spinnennetz gelaufen und würde die Fäden nicht mehr los.
Er konzentrierte sich, versuchte es zu ignorieren. Die Arme ausgestreckt, stolperte er den Berg hinab. Gern wäre er gelaufen, doch er sah nicht, wohin er trat. Ihm kam der Gedanke, dass Helen ihn jetzt sah. Dass sie ihm von oben, von unten, von jenseits, von wo auch immer zusah, wie er hier mit Gänsehaut durch den Wald stolperte.
Ab und zu blieb er stehen, um zu lauschen. Er hörte nichts, nicht einmal Wind, der in den Bäumen raschelte, nur den eigenen Herzschlag in den Ohren. Und hatte zugleich das Gefühl, jemand komme hinter ihm her.
Was ist das für ein Wahnsinn, dachte er, was geschieht hier?
Er strauchelte an einer Wurzel und prallte mit der Schulter gegen einen Baum. Kurz darauf schrammte er sich den Oberarm an einem Ast auf. Er blieb jedoch nicht stehen, denn gerade in diesem Moment sah er endlich die Lichter der Vorstadt, die Hoflampen der Villenbesitzer, Laternen, Autos. Nun konnte er schneller gehen. Sich umzublicken wagte er nicht.
Einigermaßen sicher fühlte er sich, als er die Hauptstraße erreichte. Hier waren Häuser, er konnte im Notfall klingeln und um Hilfe bitten.
Während er stadteinwärts lief, wandte er sich immer wieder um, aber kein einziges Fahrzeug kam. Und er begegnete keiner Menschenseele. Langsam ließ das Jucken in seinem Gesicht nach. Das Gefühl von Scham und Entwürdigung wich noch langsamer.
6
Nach der Autowaschanlage und dem Schuhkatalog warf ihm Severin das Katalogmaterial eines Versandhauses auf den Schreibtisch. Mit stiller Verzweiflung betrachtete Jonas die Bilder der Produkte und las ihre technische Beschreibung. Seine Aufgabe war es, aus einem stumpf blickenden Barbie-Imitat eine süße Babypuppe mit reizenden Schlafaugen zu machen, aus einer beliebigen Bettwäsche das Sonderstück Kolibri und aus einem Geschirrset mit albernen Motiven die Tellerfamilie Rex. Ihn deprimierte diese Arbeit so sehr, dass er sich nur
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