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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hinein. Er versuchte es mit einem Geschichtsbuch, mit dem es besser klappte. Er holte sich noch einen Tee. Aus dem Wohnzimmer drang Gemurmel.
    Er schrieb eine SMS an Nina. Keine Antwort. Er hängte das Handy an die Ladestation, zog sich aus, deckte sich zu. Die Bettwäsche roch nach früher.
    Zehn. Halb elf. Elf. Keine Müdigkeit. Das darf nicht wahr sein, dachte er, jetzt geht das schon wieder los.
    Halb zwölf. Zwölf. Er hatte das Buch ausgelesen.
    Sprachen könnte ich lernen, dachte er. Ich könnte diese Nächte nützen, um Sprachen zu lernen. Kirgisisch. Suaheli. Irgendetwas, das man nie braucht.
    Er meinte schon eine Weile, Stimmen zu hören, hatte sie aber feiernden Nachbarn zugeschrieben. Nun wurden sie lauter, sie schienen von der Straße zu kommen. Er rollte sich auf die andere Bettseite und schaute hinaus. Alle Straßenlampen waren unbeleuchtet. Da und dort bewegten sich kleine Lichter.
    Er steckte die Autoschlüssel ein, schlich zur Tür und in den Hausflur. Der Liftknopf blieb dunkel. Er drückte zweimal, dreimal, nichts passierte. Er nahm die Treppe.
    Im ersten Stock war das Licht ausgefallen. Vor sich hörte Jonas Plätschern. Er stieß einen Ruf aus, der unbeantwortet im Haus verhallte. Er stieg wieder höher und öffnete im Halbstock ein Fenster zur Straße.
    Bis einen Meter unter dem Fenster stand draußen Wasser.
    Eines der Lichter kam näher. Es war eine Art Laterne oder Ölfunzel, die man am Bug eines Bootes angebracht hatte. Männer in Regenmänteln ruderten. Fremd schimmertenihre Gesichter im flackernden Licht. Einer von ihnen leuchtete mit einer starken Taschenlampe die Hauswand ab.
    Sollen wir Sie mitnehmen?
    Das Boot hielt direkt unter dem Fenster, und Jonas stieg ein. Er setzte sich auf eine Planke. Mit den Rudern stießen sich die Männer von der Mauer ab.
     
    Der Mond.
    Er stand so tief und war so groß, wie es Jonas nie zuvor gesehen hatte. Es wirkte, als sei er ihr Ziel und sie trieben direkt auf ihn zu. So unwirklich dieser Anblick war, so klar fühlte Jonas dennoch, dass er nicht träumte, dass das, was vor ihm geschah, seiner Wirklichkeit angehörte.
    Ringsum ruderten die Männer schweigend. Der Bootsführer ließ seine Taschenlampe links und rechts über die Häuserfronten gleiten. Von fern waren Rufe zu hören. Die Nacht war erfüllt von einem milden, schweren Geruch und vom satten Klatschen, mit dem die Ruder in immer gleichem Rhythmus durch das schwarze Wasser zogen.
    Wie lange waren sie schon unterwegs?
    Sie trafen auf andere Boote. Die Menschen darin waren still und blickten kaum auf. Alle ruderten in dieselbe Richtung, auf das Stadtzentrum zu, dem Mond entgegen. Jonas sah Ampeln und Verkehrszeichen. Hier und da ragte ein Bus aus dem Wasser, während sich die Dächer von Personenautos unter der Wasseroberfläche abzeichneten. Bisweilen schlug ein Ruder dumpf gegen ein versunkenes Fahrzeug.
    Der Asteroid? Rohrbrüche in gigantischem Ausmaß? Regen, ein Dammbruch? Was geschah hier, und war es bereits zu Ende, oder geschah es noch?
    Mehr und mehr Boote schwammen rund um ihn auf den Mond zu, dessen Spiegelung sich auf dem Wasser ausbreitete. Jonas betrachtete den Mann im Regenmantel vor sich, der seine Taschenlampe längst ausgeknipst hatte und wie erstarrt am Bug hinter der Laterne stand. Er versuchte Werner anzurufen, doch er hatte kein Netz. Er schaltete das Handy aus und wieder ein, vergeblich.
    Jonas blickte an sich herab. Er trug Jeans und Turnschuhe. Er fand seine Beine schön. Er zog Schuhe und Strümpfe aus, denn wenn er ganz bei sich war, wollte er seine Füße sehen.
    Nachdem er eine Weile ohne Zeitgefühl auf der Planke gesessen und in den Mond geschaut hatte, fielen ihm Tom und Chris ein. Während er hier durch die überschwemmten Straßen fuhr, lagen sie in ihren Betten, mit ihrem milchigen Geruch, ihren weichen Gesichtern, ihren kleinen warmen Füßen, ihrem Kinderhaar.
    Sie begegneten einem Boot, das hinter sich ein zweites, kleineres herzog, und dieses war leer. Jonas hatte das Gefühl, der andere Bootsführer mustere ihn bedeutungsvoll. Er blickte in den Mond, sah seine Schattierungen, seine Aura. Er wandte sich wieder um und sah das Beiboot davontreiben.
    Ich brauche unbedingt dieses Boot! rief er.
    Zu seiner Überraschung nickte der andere Bootsführer. Die Boote stoppten nebeneinander. Das kleine wurde losgebunden. Jonas zog Strümpfe und Schuhe an und stieg hinüber. Mit einem Mal scheute er sich, jemandem in die Augen zu schauen. Er dankte mit einem

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