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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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dass der Mann gestolpert und kopfüber in eine Senke gestürzt war, wobei er mit den Füßen offenbar hängen geblieben … blablabla, und nun pass auf: Ermittler können noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Mann noch gelebt hat, als sich Waldtiere über seinen Körper hergemacht haben, halten es jedoch für wahrscheinlich.
    Das ist ja fürchterlich! rief Anne. Wieso erzählst du mir so etwas?
    Der Mann scheint von Eichhörnchen gefressen worden zu sein, sagte Jonas.
    Wieso Eichhörnchen? Nicht Eichhörnchen. Aber von anderen … Ich muss mir das nicht vorstellen. Wieso liest du mir das vor?
    Ich habe dir nicht alles vorgelesen.
    Mir genügt das schon!
    Aber der Teil, den ich dir unterschlagen habe, ist für die Geschichte wesentlich!
    Ich will das nicht hören!
    Na gut, sagte er. Dann eben nicht.
    Im Gehen hielt er Anne den Zeitungsausschnitt unter die Nase. Dabei schaute er in eine andere Richtung.
    Bist du nun mit Siad zusammen? fragte er.
    Also gib schon her! rief sie und riss ihm das Papier aus der Hand.
    Sie las. Er wartete.
    Das ist doch nicht möglich!
    Offensichtlich schon, sagte er.
    Glaubst du, er war das?
    Wie viele arbeitslose zweiunddreißigjährige Kims gibt es hier?

23
    Die Kinder waren seit einer Woche mit Lea und Frank in den Bergen und würden eine weitere bleiben. Er faltete ihre Laken, schüttelte die Kissen auf, fischte ein Stofftier unter Toms Bett hervor und entdeckte dabei eine verschimmelte Kakaoflasche. Er roch an ihren Pyjamas. Er bekam Lust, sie anzurufen, doch es war viel zu spät am Abend.
    Er ordnete die neuen Fotos, die er eine Minute vor Ladenschluss im Fotogeschäft abgeholt hatte. Die besten klebte er wie üblich ins Album, die anderen legte er in die Schachtel, und sein Porträt kam auf den Stapel mit den anderen Bildern vom Monatsersten.
    Er nahm die Vorhänge ab und steckte sie in die Waschmaschine, saugte und wischte Flächen sauber, klopfte Teppiche aus, goss Reiniger in die Abflüsse und putzte zwei Fenster. Dann trank er ein Glas warme Milch und legte sich hin. Er blätterte in umherliegenden Zeitschriften, wobei er sich ertappte, wie er sie anhand des Erscheinungsdatums in vorher und nachher unterschied: vor Helens Tod, danach. Vor Marie, seither. Er drehte den Daruma in der Hand.
    Er warf sich von einer Seite auf die andere. Keine Müdigkeit.
     
    Die Nacht war die schwülste seit Langem. In der Ferne hörte er ein Motorengeräusch, ohne bestimmen zu können, ob es von einem Auto, einer Säge oder einem Rasenmäherkam. Fußgänger waren keine unterwegs. Er ging Richtung Wald. Kurz davor blieb er stehen. Es war stockfinster, kein Stern stand am Himmel, und er hatte keine Lampe dabei.
    Den Rücken der schwarzen Wand aus Bäumen zugekehrt, setzte er sich auf einen Baumstumpf. Grillen zirpten, ein Kauz schrie. Wind schüttelte von Zeit zu Zeit die Blätter in den Bäumen. Jonas las gespeicherte SMS, lächelte bei den lustigen, seufzte bei anderen. Es waren mehr von den anderen. Er steckte das Handy weg.
    Wie er so dasaß, erinnerte er sich an seine Jugendzeit. Einmal hatte er sich die Haare angezündet und erst nach einer Weile gelöscht. Heute noch sah er das Entsetzen in den Augen der Umstehenden und erinnerte sich, wie komisch er es gefunden hatte. Gnade und Dankbarkeit in der Absurdität finden. Manchmal hatte er gefunden. Selten.
    In der Hoffnung, so zu ermüden, spazierte er stadteinwärts. Er hörte nichts als das Geräusch seiner Sohlen auf dem Asphalt. Er kam am Schwimmbad vorbei. An einer Kirche. Er begegnete einem kichernden betrunkenen Paar. Er überquerte eine Hauptstraße und wunderte sich, wie leer die Stadt war. Vermutlich waren noch immer viele Leute in den Ferien.
    Er begann zu laufen. Ohne zu wissen, warum.
    Er lief immer schneller.
    Und schneller. Dabei schrie er, und ebenso wenig, wie er wusste, wieso er rannte, wusste er, wieso er schrie. Aber dass er rannte und schrie, jagte ihm eine wundersame, lustvolle Angst ein. Seine Nackenhaare sträubten sich, es überlief ihn kalt. Er genoss dieses Gefühl. Er rannte, rannte immer schneller, dachte immer weniger. Er rannte und rannte und schrie, bis er stolperte, sich überschlug und in wildem Sturz gegen einen Hydranten prallte. Ein metallenerSchmerz durchzuckte sein Knie, und für einige Sekunden bekam er keine Luft.
    Er blieb auf der Seite liegen. Zwei Minuten, drei, dann betastete er sich. Gebrochen hatte er wohl nichts, doch sein Knie und sein Schienbein bluteten stark. Er lachte.
    Er legte sich auf

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