Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Aber vielleicht bekam ich nun die Chance zu erkennen, wer ich tatsächlich war, und vieles zu begreifen, was ich nie verstanden hatte. Wobei anderes im Gegenzug unverständlicher wurde.
Natürlich dachte ich intensiv über Val nach, meine leibliche Mutter. Sie war nun schon etliche Jahre tot, und ich wusste nicht, ob sie die Wahrheit geahnt hatte. Wenn ich allerdings an unsere Begegnung im Isabella Stewart Gardner Museum zurückdachte, bei der sie mich so gerührt betrachtet hatte, lag die Vermutung nahe, dass sie irgendwann – später als Connie, aber früher als ich – verstanden hatte, was geschehen war. Und – recht typisch für eine Frau, die sich lieber in ihrem Atelier als in der Nähe ihrer Familie aufhielt – hatte sie offenbar beschlossen, alles auf sich beruhen zu lassen.
Die einzigen Menschen, mit denen ich hätte sprechen können, waren die Geschwister Dickerson – Vals leiblicher Sohn und die Tochter, die sie als ihre eigene großgezogen hatte: Ray und Dana.
Ray – dessen Name in mir noch immer eine schmerzhafte Traurigkeit auslöste.
Ray – der in Wirklichkeit mein Bruder war.
Dana lebte ganz in der Nähe, und ich hätte sie mühelos anrufen können. Doch was hätte ich ihr sagen sollen?
»Ich habe dein Leben bekommen und du meines. Was wollen wir nun tun?«
Ray war jedenfalls gewiss nicht der Mensch, den man über das Internet finden konnte. Und selbst wenn es mir gelungen wäre – ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte, auch wenn ich mir viele Jahre nichts anderes gewünscht hatte. Zuletzt hatte ich ihn aus dem Fenster des Taxis gesehen, das mich von der Hütte auf einer kleinen Insel in Kanada wegbrachte, mit einer Frau, die für mich nun nicht mehr meine Mutter, sondern Connie Plank war. An jenem Tag, den ich bislang für den schlimmsten meines Lebens gehalten hatte.
Nun wusste ich, warum Connie so gehandelt hatte. Und obwohl ich unendlich gelitten hatte und es ein großer Fehler von ihr gewesen war, mir die Wahrheit zu verschweigen, konnte ich ihr nun endlich vergeben.
Dana
Das wäre besser gewesen
D ie Zeit ging dahin. Frühjahr. Die Geburt von Zicklein. Käse. Erdbeerernte. Winter. Sieben, ohne Clarice.
Dann bekam ich im Frühjahr einen Anruf von meinem Bruder aus Boston. Er kam aus Oregon, war seit zehn Tagen mit dem Greyhound unterwegs und wollte gleich in einen Bus nach Concord steigen. Und fragte mich, ob ich ihn dort abholen könnte.
Ich war sechsundfünfzig, Ray war also inzwischen sechzig. Zuletzt hatte ich ihn bei Vals Beerdigung erlebt – doch im Geiste sah ich immer noch den Jungen mit dem Einrad, der Mundharmonika und dem wilden scheuen Blick in den leuchtend blauen Augen vor mir.
Auf den Mann, der an diesem Tag aus dem Bus stieg, war ich nicht vorbereitet. Mein Bruder mit seinem herzzerreißend schönen Gesicht war immer schlank gewesen und hatte sich mühelos und geschmeidig bewegt. Nun wirkte sein Körper schwerfällig. Er hielt sich aufrecht, doch ich merkte, dass es ihm nicht leichtfiel. Sein Haar war noch dicht und länger als bei unserer letzten Begegnung, aber fast grau.
»Lange Fahrt«, sagte er, als er ins Auto stieg. Er ließ sich so vorsichtig auf dem Beifahrersitz nieder, als habe er eine Krankheit, bei der seine Knochen brechen könnten.
»Du hast bestimmt Hunger«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf.
Eine Zeit lang dachte ich, es würde Ray guttun, auf der Farm zu arbeiten – sich um die Ziegen zu kümmern und die Erdbeerbeete zu betreuen. Aber er war ruhelos und konnte sich auf nichts konzentrieren. Oft fand ich ihn mit einem Rechen in der Hand auf der Veranda vor, wenn ich nach Hause kam. Oder er lag in dem Liegestuhl, den ich damals für Clarice angeschafft hatte. Er schlief sehr viel. Wenn wir abends zusammen aßen, schwieg er die meiste Zeit. Danach schaute er fern oder spielte Solitaire. Manchmal schien es, als wolle er mir etwas sagen, aber er sprach nur selten.
»Kannst du dich noch an deine Zaubertricks von früher erinnern?«, fragte ich ihn einmal, als er die Karten auspackte. »Da gab es diesen einen, bei dem die Königin am Ende immer auf dem Kopf von jemandem landete.«
»Den hab ich nie gemacht«, entgegnete er nur.
Eines Abends, als wir zum Nachtisch Pie aßen, erzählte ich ihm von Clarice. Ich wollte, dass mein Bruder über mein Leben Bescheid wusste. Aber vielleicht wollte ich auch einfach nur mit jemandem über sie sprechen. Ray redete zwar wenig, war aber immer noch ein besserer Gesprächspartner als die
Weitere Kostenlose Bücher