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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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angehalten.
    Das Schweigen dauerte an, und ich dachte schon, er würde nichts mehr sagen. Doch dann sprach er, und seine Stimme war leise und dunkel und voller Schmerz.
    »Ich habe das nie jemandem erzählt«, sagte er. »Aber wir wollten heiraten und ein Kind haben. Sie war schwanger. Dann habe ich erfahren, dass sie meine Schwester ist.«
    Ich fragte mich, wie er es erfahren hatte, aber ich wollte nicht fragen. Er hatte das so lange mit sich herumgetragen. Und nun hatte er es ausgesprochen.
    »Ich bin vor einiger Zeit auf ähnliche Gedanken gekommen«, erwiderte ich. »Sie hätten es uns damals schon sagen sollen.«
    »Das wäre besser gewesen«, sagte Ray. Dann hörte ich nur noch das Klicken, als er auflegte.

Ruth
    Ein anderes Leben als in Boston
    O bwohl so viel Zeit vergangen war, erkannte ich ihn sofort. Wenn Ray früher in einen Raum kam, betrat er ihn nicht einfach, sondern er nahm ihn förmlich ein, indem er hereinstürmte und meist etwas zum Besten gab – einen Zaubertrick, einen Witz, einen Song. Einmal war er tatsächlich bei sich zuhause mit dem Einrad in die Küche gerast.
    Inzwischen bewegte sich der Mann, der mein Bruder war, so vorsichtig wie auf Glatteis. Als er hereinkam, war sein Blick zu Boden gerichtet. Deshalb dauerte es einen Moment, bis er mich wahrnahm. Doch dann war es, als würde ein Schleier gelüftet und die Zeit spiele keine Rolle mehr. Seine langen Wimpern, die blauen Augen, die mich früher stundenlang betrachtet hatten, waren unverändert. Trotz allem, was Ray durchgemacht hatte, war er noch immer ein gut aussehender Mann.
    Ich hatte diesen Augenblick in all den Jahren so oft herbeigesehnt, dass ein paar Momente vergingen, bis ich mit einem reißenden Schmerz merkte, wie meine Gefühle sich verändert hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der mir bei Rays Anblick der Atem stockte. Mein Körper war so auf ihn eingestimmt gewesen, dass eine Berührung seiner Hand mich förmlich zum Schmelzen brachte.
    Jetzt empfand ich nur dieselbe Wehmut wie im Umgang mit all den anderen Menschen in meinem Kurs. Ich litt mit ihnen, weil die Welt für sie ein so schmerzhafter Ort war, dass sie ihn nur auf die einzige ihnen vertraute Art verlassen konnten.
    Ray arbeitete den ganzen Nachmittag mit Ton. Was er dann am Ende gestaltet hatte, war ein makelloses Ei.
    Bevor er aufbrach, gab er mir die Hand und sagte: »Du siehst immer noch gut aus.«
    »Ich habe oft an dich gedacht«, erwiderte ich. »Ich hoffe, es geht dir gut.«
    »Hast du Kinder?«, fragte er.
    »Ein Mädchen und einen Jungen.«
    Ray nickte und ging. Er kam nie wieder in den Kurs, und, offen gestanden, war ich froh darüber.
    Da Jim nun nicht mehr bei mir wohnte und mein Vater im Pflegeheim war, gab ich meine Teilzeitstelle an der Grundschule auf und arbeitete auch als Kunsttherapeutin weniger. In diesem Sommer betrieb ich den Verkaufsstand, was viel Arbeit war, aber ich wollte das tun, weil ich wusste, dass ich nicht mehr lange auf der Farm leben würde. Bei allem, was durch meine Hände ging – Erbsen, Spinat, Erdbeeren, Brokkoli, Tomaten, Paprika –, wusste ich, dass es meine letzte Ernte auf der Plank-Farm sein würde. Wir waren mittlerweile beim Mais angelangt. Danach kamen nur noch die Kürbisse.
    Douglas war inzwischen ziemlich selbstständig und fuhr alleine zur Schule und zum Baseball, aber ich sah mir seine Spiele so oft wie möglich an, manchmal sogar gemeinsam mit seinem Vater.
    Meine Familie hatte nun beschlossen, die Farm an Victor Patucci zu verkaufen; ich war die einzige Gegenstimme. Sobald im Herbst der Kredit der Patuccis bewilligt würde, stand die Unterzeichnung der Papiere an.
    Eines Nachmittags hielt ein BMW -Kabrio mit offenem Dach am Verkaufsstand. Ein alter Soul-Song dröhnte aus der Stereoanlage.
    Josh war zwar auch weit über fünfzig, sprang aber noch aus seinem Auto wie in der alten Fernsehserie Ein Duke kommt selten allein , über die wir uns früher immer lustig gemacht hatten.
    »Ich war bei einer Frau auf Cape Cod«, erklärte er. »Und da dachte ich mir, ich schau mal bei dir vorbei und überrasch dich.«
    Ich sagte, das sei ihm gelungen.
    »Du führst hier ja ein ganz anderes Leben als in Boston«, meinte er und schaute sich um. »Alles lange her, wie?« Auch sein Leben hatte sich verändert. Er lebte jetzt in Santa Monica und drehte Pornos. Geschmackvolle, versicherte er mir.
    »Ich hab was für dich«, sagte er und reichte mir einen Umschlag. »Letztes Jahr haben wir das Buch neu aufgelegt. Und ob

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